Archiv der Kategorie: Gesellschaft

30.1.2018 – Büro, Morgenrunde, Symbolfotos und Rossi

Den allergrößten Stress der vergangenen Wochen im Büro erst einmal hinter mich gebracht, die Projektphase erfolgreich beendet samt Tests und Dokumentation, bei durch Krankheiten und neuer Aufgabenverteilung stark reduziertem Team. Gekrönt wurde das Ganze am Freitag von der mehrstündigen Abschlusspräsentation vor dem Management als verantwortlicher Produktmanager, dazu am selben Tag ein Update zu einem schwierigen anderen Projekt vorgestellt, wofür wir auch erst einmal wieder das Okay bekommen haben, weiterzumachen. Das war alles sehr anstrengend, aber von der Sorte Anstrengung, bei der einen weniger emotionaler Mist belastet, sondern einfach nur viel zu tun ist, was aber Hand in Hand mit den anderen Kolleg_Innen durchaus Spaß machen kann.

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Habe mich überreden lassen, für den Pfarrgemeinderat unserer Pfarrei zu kandidieren. Wahl ist Ende Februar, mal sehen, ob ich als immer noch relativer Neuling im Viertel gewählt werde. Und wenn ja, was ich dort bewegen kann. Mein Schwerpunkt wäre wie bisher am ehesten Liturgie und Gottesdienstgestaltung, nur dann in offiziellerer Funktion. Darüber hinaus wird das vermutlich der letzte Pfarrgemeinderat dieser Gemeinde sein – in den kommenden Jahren sollen alle katholischen Pfarreien der Stadt zu einer einzigen (mit verschiedenen Stadtteilkirchen) zusammengefasst werden. Für diesen Übergang in eine andere Gemeindeform gibt es sicher viel nachzudenken und zu gestalten.

Viel zu früh wach gewesen, daher schon um viertel nach sechs zur Morgenrunde aufgerafft. Über den Feldern Sternenhimmel, im Westen ein absurd großer, orangefarbener Vollmonduntergang, dazu große, abgegrenzte Wolkenbänder von Nordwest nach Südost, von unten weiß über orange bis rot von Stadt und Gewächshäusern angestrahlt vor dem blauschwarzen Himmel leuchtend, nach oben hin immer dunkelgrauer werdend, was für ein unglaublich kitschiger, atemberaubend schöner Himmel.

https://twitter.com/giardino/status/958222359244296192

Den Rest des Tages in jeder Minute das Sonnenlicht aufgesaugt, wer weiß, wie lange die nächste Wolkendecke hängen bleibt.

Bilder über seelische Krankheiten – ein Aspekt einer Entwicklung, die ich schon seit langem kritisiere: Symbolbilder zu sensiblen oder kritischen Themen sind häufig schlicht daneben und schaffen eine gefährlich unbewusste Einordnung von Nachrichten und Artikeln. Nicht nur bei psychischen Krankheiten. Mit zusammengekauerten Frauen im Halbdunkel werden z. B. auch gerne Beiträge über häusliche Gewalt illustriert. Klar, so stellt man sich (zumal weibliche) Opfer von Gewalt gemeinhin vor: sprachlos, passiv, gebrochen. Wehe, sie treten dann ganz anders auf, z. B. selbstbewusst und stark wie Natascha Kampusch, schon sprechen ihnen viele ihre Glaubwürdigkeit ab. Das ist nicht primär die Schuld von Symbolbildern dieser Art, aber sie zementieren durchaus die Stereotype von Opfer- und Täterschaft.

Oder ein aggressiv dem Betrachter entgegengestrecktes Messer als Bild zu einer Messerstecherei, und dann liest man in der dazugehörigen Polizeimeldung, dass jemand einen Bekannten verprügelt hat, der sich irgendwann mit einem Messer verteidigte, was so gar nicht mehr zum dargestellten „fremden Gangster mit Messer“ passt.

Ich befürchte, die Klickstatistiken sind eindeutig: Nur-Text-Teaser werden sicher viel weniger aufgerufen als solche, die von einem emotional aufgeladenen Symbolbild begleitet werden. Immerhin scheint man inzwischen in manchen Redaktionen zumindest bei Verbrechensnachrichten zu einem inhaltlich neutralen „Polizei“-Symbolbild zu greifen. Ich möchte gerne glauben, dass das aus inhaltlicher Einsicht geschieht.

Bei manchen Themen ist die teilweise offene Lächerlichkeit von Symbolbildern schon legendär, ob lachende Frauen mit Salat, oder der böse Hacker im Kapuzenpulli mit Maske und Handschuhen am Laptop, oder einfach alles, was der extrem unterhaltsame Twitteraccount @darkstockphotos ausgräbt. Aber man sollte meines Erachtens auch jenseits von Verbrechen bewusster wahrnehmen, wie Symbolbilder unsere Perspektive auf Vorkommnisse und Menschen beeinflussen. (Und seitens Redaktionen auf stereotype Darstellungen hoffentlich ganz verzichten.)

Dass Realnamenzwang im Internet problematisch ist, ist ja nichts neues. Aber in der Wissenschaft setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass er nicht nur wenig bringt, sondern sogar gegensätzlich wirkt – zumindest, wenn man tatsächlich meint, Hassrede und Trollerei dadurch eindämmen zu können. (Darüber hinaus mögen Organisationen oder Internetkonzerne natürlich noch weitere Motive für Realnamen haben, über die sie nicht immer gerne sprechen, z. B. eine plattformübergreifende Zuordnung von Accounts zu Menschen aus Gründen des Targetings für Werbekunden.)

Im Vokalensemble erarbeiten wir uns gerade Michelangelo Rossi. Mit welchem Spaß der Komponist die Stimmen in ständige Tonartwechsel und Dissonanzen wirft! Herrlich zu singen. Und schwer vorstellbar, dass diese Musik praktisch 400 Jahre alt ist. Hier ein Madrigal, das wir derzeit proben, gefunden auf Youtube:

Autonomie

(Ich schreibe das hier auf, weil ich versuche, meinen Gesinnungswandel beim Thema Abtreibung in den vergangenen Jahren festzuhalten. Ansonsten ist es die Meinung eines nicht schwanger werden könnenden Mannes und insofern sicher weder sensationell noch notwendigerweise relevant.)

Frauen* werden gemeinhin weitgehend allein für alles verantwortlich gemacht und verurteilt, was mit Schwangerschaft und Kindern zu tun hat. Väter, Familiensysteme, gesellschaftliches Rollenverständnis, Gesetze, wirtschaftliche Faktoren, all das wird oft kurz angeleuchtet, doch dann richtet man den Scheinwerfer gerne wieder auf „die Frau“ und was sie falsch macht:

  • wenn sie grundsätzlich keine Kinder haben möchte, ist sie selbstsüchtig und karrieregeil
  • wenn sie eine Empfängnis mit der Pille danach verhindert, ist sie „zu doof zum Verhüten“ und handelt fahrlässig
  • wenn sie abtreibt, handelt sie verantwortungslos und selbstsüchtig
  • wenn sie nicht abtreibt, obwohl sie weiß, dass das Kind behindert sein wird, ist sie verantwortungslos und naiv
  • wenn sie ihr Kind zur Adoption freigibt, hat sie als Mutter versagt
  • wenn sie ihr Kind nicht vor einem prügelnden Vater schützen kann, ist sie Schuld
  • wenn ihr Kind in Armut aufwächst, ist sie Schuld
  • wenn sie sich den Großteil ihrer Zeit um den Lebensunterhalt kümmern muss, ist sie eine schlechte Mutter und vernachlässigt ihr Kind

(Gegenprobe: Diese Ansichten mal zum Spaß auf Männer bzw. Väter ummünzen.)

Die Parallele dazu, wie in unserer Gesellschaft das Thema Gewalt gegen Frauen verhandelt wird, ist nicht zufällig – Frauen stehen im Fokus, sie sind im Zweifelsfall Wesen mit fragwürdigen Motiven und verantwortungslosem Verhalten, die Belehrung brauchen. Männer haben mit nichts etwas zu tun, familiärer und gesellschaftlicher Kontext existieren nicht. (Mit zeitweiligen Ausnahmen, wenn es dem Rassismus dient.)

Frauen und auch schon Mädchen wissen, dass sie im Zweifelsfall mit einem Kind alleine gelassen werden, für sein körperliches und seelisches Wohlergehen verantwortlich sein werden, seine menschliche Entwicklung, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, und das Tag und Nacht für mindestens zwei Jahrzehnte. Sie wissen im Normalfall auch sehr gut, was sie selber leisten können, körperlich und emotional, wie weit sie sind, diese Verantwortung übernehmen zu können, ob sie annehmen können, dass da ein Mensch in ihnen wächst, sie wissen, wieviel Unterstützung sie von ihrem Umfeld erwarten können. Sie wissen auch genauso, dass Kinder wertvoll sind und Kinder zu bekommen Glück und Erfüllung bedeuten kann.

Wie bei vielen ethischen Fragen solcher Tragweite kann kein Mensch von außen eine Entscheidung für oder gegen die Fortführung einer Schwangerschaft treffen. Pauschal anzunehmen, dass Frauen das nicht verantwortungsvoll täten, dass ihnen sogar sachliche Information über Eingriffe und Folgen vorenthalten werden müssen (§219a), weil sie sie sonst zu leichtfertig damit umgingen, ist von einer absurden Frauenfeindlichkeit. Erst recht, wo man längst aus Ländern mit liberaler Handhabe weiß, dass dort keineswegs mehr Abtreibungen stattfinden.

Ich bin Christ, ich glaube an die Heiligkeit und Kostbarkeit des menschlichen Lebens, auch das eines noch nicht geborenen Fötus. (Die Lehre der katholischen Kirche, die aus Angst vor der Unschärfe des Lebensbeginns gewissermaßen rückwirkend jeden Zellhaufen oder sogar unbefruchtete Keimzellen für heilig hält, teile ich nicht.) Aber ich glaube als Christ auch an die Gewissensentscheidung. Ganz abgesehen davon, dass auch das geborene Leben heilig ist, das eines Kindes wie auch das der Mutter oder des Vaters. Ich finde ein Beratungsangebot vor einem Abbruch vor allem für junge Schwangere gut, aber als ganzheitliche Unterstützung in einer sicher für viele schwierigen Lebenslage. Sie muss alle Möglichkeiten aufzeigen, von medizinischen Methoden bis hin zur möglichen Unterstützung durch soziale Einrichtungen oder auch Adoption. Sie kann nur ergebnisoffen sein, ohne künstliche Verknappung von Information, ohne willkürliche Zwangsbedenkzeiten, und die Informationen müssen auch sonst frei zugänglich sein.

Es ist mir im Rückblick peinlich, aber was meine Haltung hin zur Entscheidungsfreiheit unterstützt hat, war ein einfaches Gedankenspiel zur körperlichen Autonomie: Stell dir vor, du würdest gesetzlich verpflichtet, bei Bedarf verzichtbare Organe zu spenden, z. B. eine Niere. Der Staat bestimmt, dass ein Teil deines Körpers nicht dir gehört, sondern im Zweifelsfall jemand anderem. Samt lebenslangen Konsequenzen und einem potentiell lebensgefährlichem Eingriff. Und sozialer Kontrolle, ob du auch ja schonend mit deinem Körper umgehst.

Der Vergleich hinkt natürlich an verschiedenen Stellen, aber dass nur jeder Mensch für sich selbst entscheiden können darf, was mit seinem Körper passiert, ob darin etwas – und sei es ein kleiner Mensch – wachsen darf oder nicht, das ist für mich so außer Frage – danach muss man nicht einmal mehr über erlaubte medizinische Ausnahmen und besondere Härtefälle nachdenken. Und dass manche ihre Entscheidung – ob in die eine oder andere Richtung – irgendwann auch einmal bereuen können, ist mit allen menschlichen Entscheidungen so und kein Argument gegen die Freiheit.


Nachtrag: Ich weiß nicht mehr, in welcher Online-Diskussion ich den Vergleich mit der Nierenspende aufgeschnappt hatte. Myriam hat mich jetzt auf den lesenswerten Aufsatz A Defense of Abortion aus dem Jahr 1971 hingewiesen, in dem die Philosophin Judith Jarvis Thomson die Frage nach der Rechtfertigung der Abtreibung anhand des Beispiels ausführlich diskutiert.

17.4. – Karwoche, Moorhof, Kinder in der Stadt

Einigermaßen stolz darauf, die Morgenrunden auch in der vergangenen Woche von Montag bis Freitag durchgezogen zu haben; meistens walkend (nach wie vor ohne Stöcke), immer um die 5 Kilometer in ca. 45 Minuten, wobei ich nach und nach verschiedenen Strecken  ausprobiere. Selbst heute früh im Regen. Praktisch: Die meisten Wege lassen sich gut mit einem Bäckereibesuch kombinieren, so dass ich mit frischen Brötchen zum Frühstück zurückkomme.

Die Spargelernte auf den Feldern hat in der vergangenen Woche losgelegt, und nach dem Rhabarber wollen auch die ersten Reihen Salat bald geerntet werden. Schön, das jetzt von Tag zu Tag verfolgen zu können, und die Passage an den Wassersprengern vorbei liefert auch immer wieder Anlass zu kleinen Sprints.

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Nach wie vor ist das Schlafzimmerfenster einer meiner Lieblingsplätze, an dem ich jeden Tag eine Weile sitze und auf die Felder und Wiesen schaue, was da so kreucht und fleucht.

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Ein Jahr bin ich jetzt in der Gemeinde als Lektor aktiv, und es tut gut. Auch, weil die Möwe und ich eine ganze Reihe sehr netter Gemeindemitglieder kennengelernt haben und somit nach fünf Jahren endlich auch persönlich in unserem Viertel wurzeln schlagen, über die Handvoll direkter Nachbarn hinaus.

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Am Samstag Nachmittag haben wir uns aus dem Vogelbeobachtungsbuch für Süddeutschland (gibt es auch für Nord- und Ostdeutschland) das Moorhof-Weihergebiet ausgesucht, das keine halbe Autostunde entfernt liegt. Ein wunderbar friedliches Tal mit Fischteichen, Schilf und Wiesen, wo alle möglichen Vögel rasten und brüten. Wir haben den Schwerpunkt mehr aufs Spazierengehen als auf Beobachtung gelegt, aber auch so sind uns viele Arten begegnet: Stockenten, Rabenkrähen, Höckerschwäne, Blässhühner und Turmfalken sowieso, aber dann auch Graugänse (jede Menge), eine Kanadagans, Nilgänse, Haubentaucher, Goldammer, Schwarzhalstaucher (zum ersten Mal gesehen, was für ein schönes Tier!), Reiherenten, Silberreiher, Graureiher, Kormorane und Rotmilane. Aus Gründen des Vogelschutzes darf man zwischen März und September die Dämme zwischen den Teichen nicht betreten, aber es kamen auch so acht Kilometer Rundweg zusammen. Es war wolkig und wehte ein ungemütlicher Wind, aber glücklicherweise blieben wir trocken. Hierhin werde ich sicher an einem wärmeren Tag wiederkehren, dann aber mit mehr Zeit und Ruhe, um hoffentlich ein paar der versteckteren und kleineren dort lebenden Arten zu entdecken.

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Auf Twitter wurde mir heute ein Fotoalbum mit Schwarzweißfotos aus dem Berlin-Kreuzberg der Siebziger Jahre in die Timeline gespült. Faszinierend der Bestand an alten Häusern, die vielen Mauern (neben der einen großen), das wenige Grün, die Geschäfte, die Autos der Zeit. Aber der Unterschied, den ich viel frappierender finde, sind die vielen Kinder auf den Fotos, teilweise im Kindergartenalter, die ohne Begleitung Erwachsener zusammenhocken, die Stadt um sich herum erobern, sichtbar bespielen und bewohnen. Ich selbst kann mich noch daran erinnern, Mitte der Siebziger schon als Fünfjähriger manchmal mit Gleichaltrigen in der Nähe in unserem Viertel in Duisburg unterwegs gewesen zu sein, ohne Eltern, und auf der Straße, auf Brachflächen oder rund um einen der vielen noch stehenden, zugemauerten Kriegsbunker gespielt zu haben. Dieser Anblick von Kindern ohne Begleitung mit ihren Bällen und Rädern, auf Baustellen und mit allem, was irgendwo herumsteht, spielend, ist nach meinem Eindruck inzwischen aus unseren Städten verschwunden, und zwar von Kindern aller Altersklassen.

Ich bin bei diesem Thema hin- und hergerissen. Einerseits waren die 70er in punkto Unfälle, Gewalt und sexuellen Missbrauch durch Fremde für Kinder sicher gefährlicher als heute, woran der Rückzug aus dem öffentlichen Raum seinen Anteil hat. Andererseits kann ich nicht anders als in dieser Veränderung auch einen Verlust zu sehen: an kindlicher Freiheit generell, am Sichzurechtfinden und Selbstbehauptung in der Welt draußen, an der Eroberung der Städte als Lebensraum, an Bewegung und motorischem Geschick, am frühen Lernen sozialer Fähigkeiten im Umgang mit Kindern verschiedener Elternhäuser.

Schon ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Janusz Korczak unter anderem provokant das Recht des Kindes auf den eigenen Tod formuliert und ausgeführt: „… aus Furcht, der Tod koennte uns das Kind entreissen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.“ Wie weit ist das vom Zustand der 70er Jahre entfernt, die uns aus heutiger Sicht verantwortungslos im Umgang mit der Sicherheit von Kindern erscheinen? Wieviel weiter noch gehen heute inzwischen Gesellschaften wie die USA, wo Eltern, die ihre Grundschulkinder auch nur alleine nach Hause gehen oder radeln lassen wollen, mit Aufgreifen durch die Polizei und Verfahren wegen Vernachlässigung rechnen müssen? (Gänzlich undenkbar natürlich, dass man heute als Erwachsener auch noch mit einer Kamera herumläuft und fremde Kinder fotografiert.) Ich sehe nicht, wie wir diese Schraube zurückdrehen können, in der sich alles gegenseitig verstärkt: die Angst von Eltern, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte (grundsätzlich verständlich), soziale Abgrenzung (Kinder ohne Begleitung gelten schnell als Zeichen von Armut und/oder Verwahrlosung) und Schuldumkehr (Schuld, wenn Kindern etwas zustößt, sind in der Wahrnehmung letzlich immer die Eltern, egal wie raumeinnehmend und gefährlich Straßenverkehr ist, wie kinderfeindlich ein Ort, wie kriminell ein Erwachsener sein kann). Zumal heutige Eltern selbst schon kaum mehr die Erfahrung mitbringen, wie es ist, als Kinder den öffentlichen Raum unbeobachtet durchstreifen zu dürfen. Ich finde das tragisch.

11.03. – Bov, Feminismus, Zwiebeln

Am Mittwochabend haben wir bov bjerg zugehört, wie er im E-Werk in Erlangen aus Auerhaus vorgelesen hat. Erst habe ich mich über den blöden Raum (die Clubbühne mit ein paar ziemlich weit von der Bühne weg stehenden Sofas und Tischchen) und viel zu wenige Besucher (vielleicht zwei Dutzend) geärgert, aber von dem Moment des Vorlesens an war das egal und vergessen. Was sicher zu einem Teil an bovs sympathischer Art zu lesen liegt, an der lakonischen Erzählweise, aber natürlich auch an der Geschichte selbst. Das Städtchen, das alte Haus, die Leute, fragwürdige Parties, die schwermütige Atmosphäre der Jugendzeit in den 80ern, alles stand so präsent vor meinen Augen, ich war ganz gefesselt. Es steht noch eine ganze Reihe von Lesungen an. Große Empfehlung.

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Ich würde ein Leben leben so wie jetzt und eins das total auf Karriere ausgerichtet ist und eins als Hausfrau und Mutter mit so vielen Kindern wie möglich, eins als Bäuerin vielleicht, eins in einem handwerklichen Beruf und eins, in dem ich gar nichts mache, eins in dem ich trinke oder Drogen nehme (das hatte ich gestern noch ausgeschlossen wegen kein Interesse, aber andererseits, in so einer Situation: warum denn nicht?) und eins in dem ich spiele und vielleicht eins in dem ich Verbrecherin bin – Mörderin wollte ich erst schreiben aber das würde ich vermutlich nicht übers Herz bringen, wobei ich nicht weiß, nach wie vielen Leben man da abstumpfen würde. Als Entwicklungshelferin vielleicht eines, oder anderweitig wohltätig, eins in der Wissenschaft, eins mit ganz vielen Tieren, eins allein, eins mit einer Partnerin, eins mit einem Partner, eins in einer alternativen Wohnform und auf jedem Kontinent eines sowieso, ich würde das alles durchprobieren.

Novemberregen überlegt, welche anderen Leben sie ausprobieren würde, wenn man könnte.

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Wir brauchen keine fünfzig Prozent Frauen in Aufsichtsräten oder auf hohen Managementposten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse ansonsten so ungerecht bleiben, wie sie sind. Es wäre kein Fortschritt, wenn Männer ebenso viel Care-Arbeit leisteten wie Frauen, dafür aber genauso schlecht bezahlt und wenig wertgeschätzt würden. Ungerechtigkeiten gleichmäßig auf alle zu verteilen, ist kein sinnvolles politisches Ziel.

Antje Schrupp schreibt, warum Feminismus so viel mehr ist als die traditionelle Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt, und wie er mittlerweile zum Zugpferd für eine freiheitliche Gesellschaft ohne Diskriminierung insgesamt wird, so wie neulich beim weltweiten Woman’s March.

Die Frage, ob Frauen in jeder Hinsicht als gleichberechtigte, schutzwürdige, frei und autonom handelnde Menschen leben können, ist kein Luxus- oder Randgruppenthema oder irgendwas Überholtes aus dem letzten Jahrhundert, sondern für mich zum Knackpunkt jeder politischen Agenda geworden. Wer sie ernst nimmt, kommt um eine kritische Haltung und neue Antworten zu Wirtschaftssystem und Umgang mit Ressourcen, Teilhabe von Minderheiten, gesellschaftlichen Zusammenhalt bis hin zu kriegerischen Konflikten nicht herum. Umgekehrt ist es kein Zufall, dass die Rechtspopulisten dieser Welt kaum etwas so eint wie die Frauenfeindlichkeit ihrer Programme und die Glorifizierung zerstörerischer Männlichkeitsbilder.

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Die Librairie Mollat in Bordeaux belebt auf Instagram die alte Idee mit den Plattencovern neu, und es wird nicht langweilig.

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Mr. Karawahn teaches children how to burn things properly — how to hold a match, use a lighter, light candles and build small bonfires. He lets them play with fire openly, under adult supervision, so they can indulge their curiosity and learn about fire without feeling the need to do so in secret.

Die New York Times berichtet über einen Kurs in einer Berliner Kita, bei dem Kinder den Umgang mit Feuer lernen. Man kann jedem Satz die Ungläubigkeit anhören – so etwas widerspricht dem amerikanischen Verständnis von verantwortungsvoller Erziehung schon sehr, wie ja überhaupt in punkto Freizügigkeit.

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Kennen Sie das, sich von einem Glückskeks durchschaut zu fühlen?

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Die Möwe hat seit langem mal wieder Perlzwiebeln / Borettane ergattern können, die ganz wunderbar als Antipasti schmecken, geschmort und eingelegt in einem Honig-Balsamico-Sud. Die größte Arbeit ist das Schälen, aber zu zweit geht es flott und macht Spaß, auch wenn irgendwann die Tränen fließen.

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Manchmal ist Twitter surreal.