Archiv der Kategorie: Auftritt

11.03. – Bov, Feminismus, Zwiebeln

Am Mittwochabend haben wir bov bjerg zugehört, wie er im E-Werk in Erlangen aus Auerhaus vorgelesen hat. Erst habe ich mich über den blöden Raum (die Clubbühne mit ein paar ziemlich weit von der Bühne weg stehenden Sofas und Tischchen) und viel zu wenige Besucher (vielleicht zwei Dutzend) geärgert, aber von dem Moment des Vorlesens an war das egal und vergessen. Was sicher zu einem Teil an bovs sympathischer Art zu lesen liegt, an der lakonischen Erzählweise, aber natürlich auch an der Geschichte selbst. Das Städtchen, das alte Haus, die Leute, fragwürdige Parties, die schwermütige Atmosphäre der Jugendzeit in den 80ern, alles stand so präsent vor meinen Augen, ich war ganz gefesselt. Es steht noch eine ganze Reihe von Lesungen an. Große Empfehlung.

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Ich würde ein Leben leben so wie jetzt und eins das total auf Karriere ausgerichtet ist und eins als Hausfrau und Mutter mit so vielen Kindern wie möglich, eins als Bäuerin vielleicht, eins in einem handwerklichen Beruf und eins, in dem ich gar nichts mache, eins in dem ich trinke oder Drogen nehme (das hatte ich gestern noch ausgeschlossen wegen kein Interesse, aber andererseits, in so einer Situation: warum denn nicht?) und eins in dem ich spiele und vielleicht eins in dem ich Verbrecherin bin – Mörderin wollte ich erst schreiben aber das würde ich vermutlich nicht übers Herz bringen, wobei ich nicht weiß, nach wie vielen Leben man da abstumpfen würde. Als Entwicklungshelferin vielleicht eines, oder anderweitig wohltätig, eins in der Wissenschaft, eins mit ganz vielen Tieren, eins allein, eins mit einer Partnerin, eins mit einem Partner, eins in einer alternativen Wohnform und auf jedem Kontinent eines sowieso, ich würde das alles durchprobieren.

Novemberregen überlegt, welche anderen Leben sie ausprobieren würde, wenn man könnte.

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Wir brauchen keine fünfzig Prozent Frauen in Aufsichtsräten oder auf hohen Managementposten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse ansonsten so ungerecht bleiben, wie sie sind. Es wäre kein Fortschritt, wenn Männer ebenso viel Care-Arbeit leisteten wie Frauen, dafür aber genauso schlecht bezahlt und wenig wertgeschätzt würden. Ungerechtigkeiten gleichmäßig auf alle zu verteilen, ist kein sinnvolles politisches Ziel.

Antje Schrupp schreibt, warum Feminismus so viel mehr ist als die traditionelle Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt, und wie er mittlerweile zum Zugpferd für eine freiheitliche Gesellschaft ohne Diskriminierung insgesamt wird, so wie neulich beim weltweiten Woman’s March.

Die Frage, ob Frauen in jeder Hinsicht als gleichberechtigte, schutzwürdige, frei und autonom handelnde Menschen leben können, ist kein Luxus- oder Randgruppenthema oder irgendwas Überholtes aus dem letzten Jahrhundert, sondern für mich zum Knackpunkt jeder politischen Agenda geworden. Wer sie ernst nimmt, kommt um eine kritische Haltung und neue Antworten zu Wirtschaftssystem und Umgang mit Ressourcen, Teilhabe von Minderheiten, gesellschaftlichen Zusammenhalt bis hin zu kriegerischen Konflikten nicht herum. Umgekehrt ist es kein Zufall, dass die Rechtspopulisten dieser Welt kaum etwas so eint wie die Frauenfeindlichkeit ihrer Programme und die Glorifizierung zerstörerischer Männlichkeitsbilder.

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Die Librairie Mollat in Bordeaux belebt auf Instagram die alte Idee mit den Plattencovern neu, und es wird nicht langweilig.

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Mr. Karawahn teaches children how to burn things properly — how to hold a match, use a lighter, light candles and build small bonfires. He lets them play with fire openly, under adult supervision, so they can indulge their curiosity and learn about fire without feeling the need to do so in secret.

Die New York Times berichtet über einen Kurs in einer Berliner Kita, bei dem Kinder den Umgang mit Feuer lernen. Man kann jedem Satz die Ungläubigkeit anhören – so etwas widerspricht dem amerikanischen Verständnis von verantwortungsvoller Erziehung schon sehr, wie ja überhaupt in punkto Freizügigkeit.

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Kennen Sie das, sich von einem Glückskeks durchschaut zu fühlen?

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Die Möwe hat seit langem mal wieder Perlzwiebeln / Borettane ergattern können, die ganz wunderbar als Antipasti schmecken, geschmort und eingelegt in einem Honig-Balsamico-Sud. Die größte Arbeit ist das Schälen, aber zu zweit geht es flott und macht Spaß, auch wenn irgendwann die Tränen fließen.

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Manchmal ist Twitter surreal.

19.02. – Frühling, Pelzig, Marmelade

Die Tage werden spürbar länger und mit ihnen kehrt meine Energie zurück. Morgens singen wieder die Vögel, und ich habe den Eindruck dass die eine oder andere Art auch schon turtelt und erste Nestbaudiskussionen führt. Wenn dann noch der Bodennebel die Felder in sonniges Pastell taucht, sind die düsteren Gedanken des Januars vergessen.

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Am Dienstagabend Erwin Pelzig aka Frank-Markus Barwasser mit seinem neuen Programm gesehen. Ich halte ihn ja für einen der besten politischen Kabarettisten Deutschlands. Seine drei Figuren Hartmut, der biertrinkende Prolet, Dr. Göbel, der altmodische Bildungsbürger und der quirlige Pelzig, der ununterbrochen versucht, sich einen Reim auf die Nachrichten und Fakten dieser Welt zu machen zwischen denen er so perfekt wechselt, dass man selbst als Zuschauer vergisst, dass da nicht drei verschiedene Menschen am Tisch sitzen. Die unglaubliche Fülle an Personen und Fakten, viele tagesaktuell, die er in sein mehr als zweistündiges Programm einbaut. Seine spitzbübische aber immer liebevolleArt, das Publikum einzubeziehen. Das Stakkato von Pointen und urkomischen Vergleichen, bei dem man aus dem Lachen kaum herauskommt.

Auch andere Kabarettisten nehmen Politiker und unsere modernen Marotten gut aufs Korn. Was Pelzig in meinen Augen besonders macht, ist wie er unter dem Spaß immer auch eine tiefere Ebene einzieht und das Lebensgefühl der Zeit spiegelt. In seiner Figur Pelzig steckt unter der ganzen rotzfrechen Aufmüpfigkeit und Albernheit ein Mensch, dem die Ungerechtigkeiten der Welt keine Ruhe lassen. Und man merkt, dass Barwasser/Pelzig die Gegenwart mehr als in früheren Programmen zu schaffen macht. Er spricht es zu Anfang aus: Man möchte an der Zeit schier verzweifeln. Emotionaler Höhepunkt des Abends ist dann auch ein unerwarteter Ausbruch des sonst immer um Fassung bemühten Dr. Göbel; über Minuten steigert er sich in eine Litanei von tausend Dingen, die man täglich entscheiden solle, und wie er nicht mehr ertrage, dass egal was man tue, man immer gleich auch Schuld auf sich lade, und sei es nur mit der Entscheidung, ein Hemd zu kaufen.

Doch im Gegensatz zu beispielsweise einem Hagen Rether, nach dessen Programm man sich angesichts dieser Welt nur noch die Kugel geben möchte, findet Pelzig eine positive Schlussnote: „Kein Arschloch sein. Den Hass einfach nicht zurückgeben.“ Und mit leicht trotzigem Optimismus: „Vielleicht verzweifelt ja dann am Ende die Zeit an uns.“

Geht hin, es lohnt sich.

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Schon das allererste dieser Trump-Videos unter dem Hashtag #everysecondcounts fand ich nur mäßig lustig. Die Grundidee „America first  aber dann lass XY die zweiten sein!“ ist schon unwitzig, dann die schlechte Sprechimitation, die Wiederholung rassistischer und sexistischer Witze (natürlich nur im Namen Trumps!) und so wurde es auch noch für alle möglichen Länder wiederholt, dann Regionen, dann Landstriche… nervig.

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Am Samstag ein halbes Jahr Korrespondenz sortiert und veraltete Dokumente und Rechnungen entsorgt. Heute nach der Kirche die Sonnenstunden am Nachmittag dazu genutzt, das Laub im Garten zusammenzufegen (ja, so lange habe ich nichts mehr für den Garten getan), ein paar Sträucher beschnitten, einen völlig uferlos gewucherten Efeu in die Schranken gewiesen (der dummerweise ein paar senkrechte Steinplatten von der Terrassenseite gesprengt hat), vier große Säcke Gartenabfälle gefüllt und vermutlich etwas Muskelkater bekommen. Dann Grünkohl mit Pfeffer-Birnen gekocht (aus Deutschland Vegetarisch), was raffinierter schmeckt als die einfachen Zutaten glauben lassen und auch Zeit braucht, wie man sie nach einem Bürotag eher nicht aufbringt. Lecker.

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Die Orangenzeit geht zuende. In den vergangenen Jahren bekamen wir über die Schwägerin immer mal eine ganze Kiste Zitrusfrüchte aus Italien, hauptsächlich aromatische gelbe Orangen. Diesmal haben wir einfach normale Orangen und Blutorangen gekauft, ein paar bio für die Schale, und die Möwe hat mal wieder eine Batterie von Gläsern gefüllt, deren Duft das Wohn-Ess-Zimmer füllt und deren Deckel jetzt einer nach dem anderen mit einem lauten Klack ausreichenden Unterdruck melden. Ich muss es gar nicht so englisch-bitter haben, ich bin auch mit Gelee aus normalen Orangen glücklich. Hauptsache es ist gut Ingwer drin.

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Zum Abschluss noch ein bisschen Lesefutter.

Wikipedia went from people writing an encyclopedia to people writing rules about writing an encyclopedia.

Eines von vielen kleinen Spotlights der letzten Zeit, die kein gutes Licht darauf werfen, wie die Wikipedia-Gemeinschaft mit ihren Artikeln und deren Ersteller*innen umgeht.

These new False Markets only resemble true markets just enough to pull the wool over the eyes of regulators and media, whose enthusiasm for high tech solutions is boundless, and whose understanding of markets on the Internet is still stuck in the early eBay era of 20 years ago.

Anil Dash über offene Märkte, gezinkte Märkte und Pseudomärkte im Netz, und warum es gefährlich ist, alle digitalen Umbrüche unkritisch zu feiern.

Manchmal hilft einem auch der Zufall. Ein Mann in der Runde bekommt zufällig heftiges Nasenbluten – und schon lässt sich Menstruation nicht mehr als etwas Unsauberes und Unheimliches verklären, sondern wird zu einer sich monatlich wiederholenden Körperfunktion. Der Mann, der mit einem Tampon in der Nase vor mir sitzt, ist begeistert von dessen Saugkraft.

Fr. ReadOn vermittelt Flüchtlingen Sexualkunde.

„Dresden. Modernes Pompeji.“ Das schreibt der Jude Klemperer […] dieser Satz ist das Wahrste was je geschrieben wurde über Dresden. Die Zerstörung Dresdens begann doch wie die Pompeijs nicht mit dem Knall der ersten Bomben, sondern als feiner Haarriss im Jahr 1933, zog sich langsam durch die Mauern, bis dann alles zerbarst in dem unfasslichen Schrecken jener Februarnacht.

Fr. ReadOn nimmt in einem sehr persönlichen Text den Opfermythos Dresdens auseinander.

Man möchte ohnehin ständig verlinken, was Fr. ReadOn schreibt, und angesichts eines Blogarchivs von drei Jahren frage ich mich schon, warum ihr mich nicht viel früher auf ihr Blog aufmerksam gemacht habt. Ts.

Judith Holofernes im E-Werk

Was für eine anstrengende und frustrierende Arbeitswoche. Bin ich froh, dass ich kurzfristig noch eine Karte gekauft hatte, nachdem ich erfuhr, dass Judith Holofernes am Freitag im Erlanger E-Werk auftreten würde. Zusammen mit einer Band von lauter MultiinstrumentalistInnen spielte sie Songs von ihrem Soloalbum Ein Leichtes Schwert (plus – wohl um überhaupt auf Konzertlänge zu kommen – eine Reihe von eingedeutschten Coverversionen sowie den Titelsong ihres allerersten Soloalbums Kamikazefliege). Und verbreitete dabei so viel Spaß und Begeisterung, dass die Woche doch noch mit einem glücklichen, breiten Grinsen (und mal wieder etwas sekundenverliebt) endete.

Bodo Wartke

Wie das meiste, was ich in den letzten Jahren an guten und tollen Leuten, Musik, Filmen usw. kennengelernt habe, kannte ich Bodo Wartke bis vorgestern auch nur aus dem Internet – in diesem Falle von Youtube; die Möwe hatte den Pianisten mit seinen hinreißend komischen Liedern und Balladen irgendwann zufällig dort entdeckt.

Am Sonntag spielte er in der Stadthalle Fürth, und wir hatten schon seit Februar Karten, um ihn auch mal live und am Stück zu erleben. Und wurden nicht enttäuscht. Das eine oder andere Lied seines aktuellen Klavierkabarettprogramms „Klaviersdelikte“ kannten wir natürlich schon, aber sehr viele eben noch nicht, ganz zu schweigen von Texteinlagen und Erzählrahmen.

Da gab es Lieder über deutsche Nachkriegsarchitektur, das Leben in einer WG (Die WG des Herrn ist unergründlich), das Defizit der deutschen Sprache, schön und unvulgär über Geschlechtsteile zu reden, inkompatible Frühlingsgefühle, ein benutzerdefiniertes Liebeslied (im Publikum fand sich kein Frauenname, für den er nicht schon eine Strophe getextet hatte – angeblich schon über 700 insgesamt, die er demnächst auf seine Webseite zum download stellen will), ein erotisches Lied mit vier nach Altersfreigabe gestaffelten Enden, oder eine Version des Papageno von Mozart, gesungen und mit Mundharmonika, in der auch verschiedene Vögel aus bekannten Vogel-Volksliedern gewaltsam zu Tode kommen. Ohne Bruchstelle schaffte er es sogar, nach all den Krachern ein paar ernste Balladen unterzubringen, darunter eine sehr bewegende über eine Schwester, die nur einen Monat alt wurde und die er selbst nie gesehen hatte.

Aber auch wenn mir sein Witz und seine Lieder nicht gefielen, ich würde immer noch sein Dichten bewundern: Mann, kann der Mann reimen! Und er beweist, dass das nur zum Teil mit sich reimenden Wörtern zu tun hat, aber dafür ganz viel mit Rhythmus. Was ich sagen will: Das war ein fantastisch guter Abend, das Publikum war begeistert, und nach über drei Stunden Auftritt (inkl. Pause) und drei Zugaben fuhren wir bestens gelaunt mit dem Rad nach Hause.

Hier noch ein Beispiel seiner Reimkunst; andere Sachen könnt ihr ja selbst ergoogeln oder auf seiner Webseite finden. Aber besser noch, ihr schaut ihn euch live an.