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Tag 1: Orientierung

Sagte ich gestern 30-40? Tatsächlich sind wir an die 70 Männer so zwischen 45 und 60, die wir das Hotel derzeit für uns haben; ich hatte nur noch nicht alle auf einmal gesehen. Als ich letzte Nacht kurz aufwachte, entstand da aus unerfindlichen Gründen das folgende Bild vor meinem inneren Auge. (Für das Hinzufügen einer genervten Eule reicht mein Talent leider nicht.)

Der Tagesablauf beginnt um halb Acht mit einer halben Stunde Aktivität vor dem Frühstück. Heute sind wir stramm durch den kleinen Ort gewandert, wo noch hier und da im Schatten ein paar Schneereste liegen, bekamen ein paar Schnipsel zur Geschichte erzählt und wissen jetzt, wo der Supermarkt ist und was man sonst noch ggf. in den Wochen brauchen könnte. Außerdem konnte man Eiger, Mönch und Jungfrau am Horizont sehen – das sind immerhin an die 150 km entfernte Alpengipfel! So ein klares Sonnenwetter war das heute.

Das 2000-Seelen-Dorf ist Luftkurort seit den Dreißigern und konnte zur besten Zeit weit über 400.000 Übernachtungen zählen. Heute sind es nur noch gut die Hälfte, und das sieht man dem Ort an. Nicht nur unser Hotel, auch die meisten anderen der ehemals sechs (!) Reha-Kliniken werden inzwischen nicht mehr für den Kurbetrieb genutzt. Für mich sind solche Kurorte immer noch „peak Westdeutschland“, man kann an allen Ecken die Nachkriegswirtschaftswunderkultur schmecken, in der man als Arbeitnehmer Anspruch auf seine krankenkassenbezahlte Kur hatte, bis dann die Gesundheitsreformen in den 90ern den ganzen Wirtschaftszweig, der davon lebte, radikal zurückstutzten. Und auch wenn es inzwischen um Ausdauersport und Ernährungsphysiologie statt Wellness und Kirschtorte geht und mein Aufenthalt nicht von Sozialkassen bezahlt wird, ist er doch vermutlich nur mehr der letzte Ausläufer einer Epoche. Es wird nicht mehr lange dauern und sie werden geldwerte Vorteile versteuern wollen, oder die Anteilseigner werden Einsparungen fordern, mit denen solche Programme endgültig über Bord gehen.

Zum Frühstück gab es ein bis auf die Wetterdaten informationsfreies Morgenblättchen des Hotels, inklusive sexistischem Witz für Technik-Männer. Vermutlich stellt man sich das unter zielgruppengerechter Kommunikation vor. *augenverdreh*

Der Rest des Tages besteht normalerweise aus ein- bis zwei Vorträgen sowie vor allem: Sport. Zu Beginn der drei Wochen stand heute ein Fitness-Test mit Pulsuhr (2 km Walking), in den im Wesentlichen Zeit, Schlusspuls und Alter einfließen. Das wird einerseits am Ende wiederholt, um den Erfolg der Maßnahme zu dokumentieren. Andererseits diente er der Einteilung in drei verschiedene Gruppen je nach Leistungsfähigkeit, die sie „Expressler“, „Normalos“ und „Genießer“ genannt haben. Ihr dürft raten!

Am Nachmittag mein initiales Arztgespräch gehabt, daher konnte ich nicht mit auf die einstündige Gruppenwanderung. Stattdessen im Fitnessraum eine halbe Stunde auf dem Ergometer beim vorgegebenen Trainingspuls gestrampelt. Tat gar nicht weh, und vor allem hatte ich ganz vergessen, wie wohlig und leicht man sich eine Stunde nach dem Sport in seiner Haut fühlen kann. Ich glaube, das wird gut hier.

 

 

Tag 0: Ankunft

Gestern alles fertig gepackt, heute morgen dann in Ruhe mit der Möwe gefrühstückt und dann zum Bahnhof. Bis zum zweiten Mal Umsteigen waren die Anschlüsse knapp genäht, aber kein Problem. Erst beim letzten Zug kamen zehn Minuten Verspätung drauf, aber die musste dann halt der Abholer vom Hotel warten. In Waldshut bei der Ankunft waren es 19 Grad, unglaublich. Hier, 600 Meter höher, ist es aber auch noch warm, erst heute Abend wurde es frisch. Bis vergangene Woche soll hier dagegen noch Schnee gelegen haben.

Das Hotel ist äußerlich ein wenig in die Jahre gekommen, so ein typischer Ende-60er-Bau, aber innen ist alles ansehnlich und freundlich. Mein Einzelzimmer ist nicht groß, aber hat alles, was man braucht, das Personal ist nett und das Abendessen war schon mal okay. Nur ein anständiger Espresso wird mir vermutlich fehlen.

Mit mir sind heute ca. 50 andere Männer meiner Firma von allen möglichen Standorten angekommen, alle geschätzt zwischen Ende 40 und Ende 50. Ich dürfte tatsächlich einer der Jüngsten sein. Während andere sich schon in Grüppchen in der Hotellobby zum Bier zusammenfinden, ist meine Lust auf Konversation derzeit allerdings noch nahe Null. Wir werden sehen. Zeit für mich werde ich hier vermutlich recht viel haben, und das ist auch eine der Hauptsachen, auf die ich mich freue.

Mit der Möwe am Telefon mit einem Glas Prosecco angestoßen. Dieser Geburtstag ist irgendwie merkwürdig, aber dann auch wieder okay. Muss aber nicht jedes Jahr sein, dass man den Abend unter lauter Fremden verbringt.

Was übrigens ganz gut klappt: Statt Rechner oder Tablet diesmal nur das Handy als Internetgerät dabei, dazu die Bluetooth-Tastatur, die ich mir irgendwann mal angeschafft hatte, weil das Tippen auf dem Tablet so nervt und langsam ist. Auch die schwere Kamera musste diesmal zuhause bleiben, stattdessen habe ich die leicht defekte Canon-Knipse wiederbelebt, von der ich die Bilder mit SD-Karten-Adapter aufs Handy ziehen kann. Nachbearbeitung, d.h. vor allem Zurechtschneiden macht PhotoEditor (für mich die beste Android-Fotobearbeitung, die Pro-Version kostet n Appel und n Ei und verschluckt sich sogar nicht mal an 18-Megapixel-Bildern von der Spiegelreflex). Doof ist nur die gegenüber der Desktopversion reduzierte Funktionalität der mobilen WordPress-Administration; für die Einstellung eines schönen Fotokachelmosaiks muss man im Browser auf die Desktopansicht gehen.

Ich weiß jetzt schon, spätestens beim Anblick toller Vögel werde ich die Entscheidung mit der Kamera bereuen. Aber vielleicht auch eine Art, mal zu fasten: Tolle Eindrücke nicht immer gleich fotografisch festzuhalten. Und später vielleicht einfach „nur“ als Text-Fotos wiederzugeben.

#12von12, sonntags, text-only

[#1von12]
Blick aus dem Schlafzimmerfenster auf die Wiesen vorm Haus, zarter Reif in der Morgensonne, ein paar Krähen, Elstern und Wacholderdrosseln, die sonst viel befahrene Straße im Hintergrund angenehm sonntagsleer

[#2von12]
Selfie auf der Esszimmerbank im Schneidersitz, in ein Brötchen mit zerteiltem, weichgekochtem Ei beißend, vor mir eine Tasse Cappuccino

[#3von12]
Blick über den Fahrradlenker auf sonnige, frisch beackerte aber noch kahle Felder, im Hintergrund die angrenzende Wohnsiedlung

[#4von12]
Selfie mit Lesebrille am Ambo, konzentriert vorlesend, dahinter der Kirchenchor, gespannt auf seinen nächsten Einsatz wartend

[#5von12]
Zuhause auf dem Sofa, Handy mit Inoreader, Alle Artikel: 67 wollen gelesen werden

[#6von12]
Fernseher, darauf läuft eine 90-Minuten-Folge von Schnell Ermittelt, geschenkt von @jirjen

[#7von12]
Mandelreis im Auberginenmantel aus Türkei Vegetarisch, gekocht von der Möwe (nicht im Bild: mein offenstehender Mund beim Anblick)

[#8von12]
Wäschestapel, ein Haufen Schuhe und ein großer, aufgeklappter Koffer: probepacken für drei Wochen Gesundheitstraining ab Mittwoch

[#9von12]
Das grün-türkis leuchtende Außenbecken des Fürthermare im Dunkeln, darüber Dampfschwaden, im Hintergrund die Silhouette eines kahlen Baums, in dessen Zweigen ein sanft umnebelter Vollmond hängt

[#10von12]
Selfie mit Föhn vorm Schwimmbadspiegel mit kleinen Augen, nicht ganz klar ob Chlor oder wohlige Müdigkeit

[#11von12]
Notebook mit offener Google-Maps-Karte von Fort William und Fußgänger-Routenberechnung zwischen noch zu buchendem Hotel und der Autovermietung, daneben eine Tasse Espresso #urlaubsplanung

[#12von12]
Auf dem Sofa mit Sudoku zum langsamen Runterfahren Richtung Schlaf

11.03. – Bov, Feminismus, Zwiebeln

Am Mittwochabend haben wir bov bjerg zugehört, wie er im E-Werk in Erlangen aus Auerhaus vorgelesen hat. Erst habe ich mich über den blöden Raum (die Clubbühne mit ein paar ziemlich weit von der Bühne weg stehenden Sofas und Tischchen) und viel zu wenige Besucher (vielleicht zwei Dutzend) geärgert, aber von dem Moment des Vorlesens an war das egal und vergessen. Was sicher zu einem Teil an bovs sympathischer Art zu lesen liegt, an der lakonischen Erzählweise, aber natürlich auch an der Geschichte selbst. Das Städtchen, das alte Haus, die Leute, fragwürdige Parties, die schwermütige Atmosphäre der Jugendzeit in den 80ern, alles stand so präsent vor meinen Augen, ich war ganz gefesselt. Es steht noch eine ganze Reihe von Lesungen an. Große Empfehlung.

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Ich würde ein Leben leben so wie jetzt und eins das total auf Karriere ausgerichtet ist und eins als Hausfrau und Mutter mit so vielen Kindern wie möglich, eins als Bäuerin vielleicht, eins in einem handwerklichen Beruf und eins, in dem ich gar nichts mache, eins in dem ich trinke oder Drogen nehme (das hatte ich gestern noch ausgeschlossen wegen kein Interesse, aber andererseits, in so einer Situation: warum denn nicht?) und eins in dem ich spiele und vielleicht eins in dem ich Verbrecherin bin – Mörderin wollte ich erst schreiben aber das würde ich vermutlich nicht übers Herz bringen, wobei ich nicht weiß, nach wie vielen Leben man da abstumpfen würde. Als Entwicklungshelferin vielleicht eines, oder anderweitig wohltätig, eins in der Wissenschaft, eins mit ganz vielen Tieren, eins allein, eins mit einer Partnerin, eins mit einem Partner, eins in einer alternativen Wohnform und auf jedem Kontinent eines sowieso, ich würde das alles durchprobieren.

Novemberregen überlegt, welche anderen Leben sie ausprobieren würde, wenn man könnte.

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Wir brauchen keine fünfzig Prozent Frauen in Aufsichtsräten oder auf hohen Managementposten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse ansonsten so ungerecht bleiben, wie sie sind. Es wäre kein Fortschritt, wenn Männer ebenso viel Care-Arbeit leisteten wie Frauen, dafür aber genauso schlecht bezahlt und wenig wertgeschätzt würden. Ungerechtigkeiten gleichmäßig auf alle zu verteilen, ist kein sinnvolles politisches Ziel.

Antje Schrupp schreibt, warum Feminismus so viel mehr ist als die traditionelle Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt, und wie er mittlerweile zum Zugpferd für eine freiheitliche Gesellschaft ohne Diskriminierung insgesamt wird, so wie neulich beim weltweiten Woman’s March.

Die Frage, ob Frauen in jeder Hinsicht als gleichberechtigte, schutzwürdige, frei und autonom handelnde Menschen leben können, ist kein Luxus- oder Randgruppenthema oder irgendwas Überholtes aus dem letzten Jahrhundert, sondern für mich zum Knackpunkt jeder politischen Agenda geworden. Wer sie ernst nimmt, kommt um eine kritische Haltung und neue Antworten zu Wirtschaftssystem und Umgang mit Ressourcen, Teilhabe von Minderheiten, gesellschaftlichen Zusammenhalt bis hin zu kriegerischen Konflikten nicht herum. Umgekehrt ist es kein Zufall, dass die Rechtspopulisten dieser Welt kaum etwas so eint wie die Frauenfeindlichkeit ihrer Programme und die Glorifizierung zerstörerischer Männlichkeitsbilder.

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Die Librairie Mollat in Bordeaux belebt auf Instagram die alte Idee mit den Plattencovern neu, und es wird nicht langweilig.

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Mr. Karawahn teaches children how to burn things properly — how to hold a match, use a lighter, light candles and build small bonfires. He lets them play with fire openly, under adult supervision, so they can indulge their curiosity and learn about fire without feeling the need to do so in secret.

Die New York Times berichtet über einen Kurs in einer Berliner Kita, bei dem Kinder den Umgang mit Feuer lernen. Man kann jedem Satz die Ungläubigkeit anhören – so etwas widerspricht dem amerikanischen Verständnis von verantwortungsvoller Erziehung schon sehr, wie ja überhaupt in punkto Freizügigkeit.

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Kennen Sie das, sich von einem Glückskeks durchschaut zu fühlen?

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Die Möwe hat seit langem mal wieder Perlzwiebeln / Borettane ergattern können, die ganz wunderbar als Antipasti schmecken, geschmort und eingelegt in einem Honig-Balsamico-Sud. Die größte Arbeit ist das Schälen, aber zu zweit geht es flott und macht Spaß, auch wenn irgendwann die Tränen fließen.

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Manchmal ist Twitter surreal.