Hirn entknoten

Ich nehme schon ein bisschen von dem wahr, wie ungleich und schlechter Frauen im Vergleich zu Männern in nahezu allen Gesellschaften behandelt werden, was an Stereotypen über Frauen wie Männern schief oder falsch bis gefährlich ist, und wie sich Privilegien als weißer, nicht behinderter, wirtschaftlich gut situierter, heterosexueller Mann wohl gestalten und überlagern. Aber die schiere, offenbar allgegenwärtige Übermacht dieser Verhältnisse und nicht zuletzt die unbestreitbare eigene Verwicklung darin machen es schwer, darüber überhaupt gezielt nachzudenken und nicht schnell überwältigt und kleinmütig zu werden. (Oder sich bei den tausend überall herumliegenden Gründen zu bedienen, dass diese Verhältnisse gar nicht existierten, oder von der Natur vorgegeben seien, oder halb so schlimm, oder ganz auf den Kopf gestellt und andersherum, oder die Schuld anderer, oder man sowieso nichts daran ändern könnte usw. usf.)

Hier hilft es, wenn jemand diesen dicken Knoten einmal aufdröseln kann, die ganzen realen Auswirkungen unserer Gesellschaftsordnung aufführt, worin sie wurzeln, was sie mit denen tun, die zur dominierten wie auch der dominierenden Gruppe gehören, welche Strategien der Verneinung existieren, was das mit einem selbst zu tun hat und was man tun kann, um etwas zu Positiveren zu verändern. Eine solche Hilfe ist das Buch The Gender Knot. Unraveling Our Patriarchal Legacy von Allan G. Johnson, einem amerikanischen Soziologen. Ich hatte in den vergangenen Tagen beim Lesen das fortwährende Gefühl, dass da jemand Ordnung in meine Gedanken und vieles auf den Punkt bringt, was ich bislang nur diffus gedacht oder wahrgenommen hatte. Ich könnte jetzt seitenweise für mich augenöffnende Abschnitte zitieren, aber versuche lieber, ein paar der wichtigsten Punkte wiederzugeben.

Das Patriarchat mit seiner Männerzentrierung, -identifikation und -dominanz ist eine Gesellschaftsform, in der wir leben und die wir uns nicht ausgesucht haben. Damit ist es mehr als nur eine Summe von Individuen und ihren Verhaltensweisen. Das heißt, alle noch so lobenswerten Anstrengungen, durch Schulung und Bewusstseinsförderung einzelne Menschen dazu zu bewegen, etwas gegen die negativen Konsequenzen zu tun oder sich besser zu verhalten, werden an ihre Grenzen stoßen, wenn nicht das gesellschaftliche System dahinter thematisiert und verändert wird. Das gilt auch für uns selbst.

Unsere Tendenz, alle Probleme immer auf Fragen individueller Eigenschaften und Haltungen zu reduzieren, wird letztlich nicht nur wenig verbessern, sondern vermutlich das verursachende System dahinter unsichtbar und unangetastet lassen. Auf einem anderen Gebiet von gesellschaftlicher Unterdrückung lässt sich das z. B. mit den derzeit kursierenden Tweets vergleichen, die die Pegida-Sympathisanten persönlich lächerlich machen und angreifen sollen – sie dienen allerhöchstens dazu, sich in seiner Gruppe überlegen zu fühlen und werden am Ende mehr verschleiern als offenlegen, dass wir in einer grundsätzlich rassistischen Gesellschaft leben, die quer durch alle Gesellschaftsschichten und Institutionen voll von ganz selbstverständlichen, täglichen Signalen und Regeln ist, mit denen „deutsche“ Deutsche bevorzugt und Migranten herabgewürdigt und entmenschlicht werden. (Auch eine Stärke des Buchs, solche Parallelen zwischen verschiedenen Systemen gesellschaftlicher Macht und Unterdrückung sichtbar werden zu lassen.)

Mit am Praktischsten als Erklärungshilfe für die Wirkung eines Systems von Macht, Privilegien und Unterdrückung erweist sich Johnsons wiederholter Begriff des Wegs des geringsten Widerstands. Gesellschaftssysteme, die Macht ungleich verteilen und bestimmte Gruppen von Menschen unterdrücken, versuchen diese Tatsache unsichtbar zu machen. Es ist gewissermaßen eine Schlüsseleigenschaft von Privilegien, dass sie unsichtbar und unfühlbar daherkommen. So wie man als heterosexueller, weißer Mann zunächst einmal meinen kann, dass ein alleiniger, nächtlicher Spaziergang durch die Großstadt von nichts anderem als der eigenen Lust darauf abhängt. Und das Patriarchat baut uns tausend Pfade des geringsten Widerstands, uns unserer männlichen Privilegien nicht einmal bewusst sein zu müssen, Ungerechtigkeit wegzuschweigen oder -definieren, Kritik mit unseren guten Absichten wegzuwischen und jedes Nachdenken darüber zu erschweren, so wie am Ende des ersten Absatzes oben.

Ohne den Diskurs von den tatsächlich Unterdrückten, den Frauen, künstlich wegzulenken, beschreibt Johnson auch sehr eindringlich die Auswirkungen des Patriarchats auf Männer. Gewalt und das Vermögen, andere zu kontrollieren werden als männliche Ideale auf alle mögliche Weisen propagiert; damit müssen Männer zuallererst Angst vor anderen Männern haben, die ihre gesellschaftliche Stellung oder sogar ihr Leben gefährden können – und greifen ihrerseits zu Gewalt und Kontrolle als vermeintlich angstmindernden Gegenmaßnahmen. Das offenbar erst in der aktuellen 3. Auflage hinzugekommene Kapitel über Männlichkeit und Gewalt beschreibt die Konsequenzen in buchstäblich erschlagender Eindringlichkeit und zeigt am Beispiel, wie in einer öffentlichen Diskussion tatsächlich die allerstärkste Gemeinsamkeit aller Amokläufer der vergangenen Jahre nicht einmal wahrgenommen wurde (nämlich Männer zu sein), wie stark unsere Wahrnehmung der Realität vom Patriarchat und seiner vorgegebenen Deutung der Wirklichkeit verzerrt wird.

Johnson endet mit einem optimistischen Ausblick und einer Liste von Ideen und Aktionen, um auf dem Weg weiterzugehen, vom Lesen feministischer Literatur (die er im Anhang zuhauf aufführt) und dem Zuhören lernen über das Verlassen des Wegs der geringsten Widerstände und ändern des eigenen Verhaltens bis zu gemeinsamen Organisationen und Aktionen etwas gegen das Patriarchat zu tun und so mit hoffentlich vielen anderen dem reibungslosen und vermeintlich alternativlosen Lauf der Dinge etwas entgegenzusetzen, dass sich unsere Gesellschaft am Ende doch in Richtung eines gleichwertigen Miteinanders der Geschlechter bewegen kann.

Das Buch werde ich jedenfalls erst einmal nicht so schnell im Regal verschwinden lassen. Große Empfehlung. (Nur leider offenbar nicht auf Deutsch erhältlich.)

Allan G. Johnson, The Gender Knot, 3rd Ed., Temple University Press, 2014 (Verlagsseite mit Lesekapitel und Rezensionsstimmen)

Silvester im Kloster

Irgendwann im Herbst dachten wir darüber nach, wie wir die Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig verbringen würden. Wir waren in den vergangenen Jahren immer nach Weihnachten zu unseren Familien nach Duisburg gefahren, bis zum Silvestermorgen geblieben, um dann völlig erschöpft und merkwürdig frustriert den Jahreswechsel zuhause zu verbringen. Auch angesichts des nochmal größeren Stresses auf der Arbeit musste diesmal irgendetwas anderes ausprobiert werden. Und da wir weder Wintersportler sind, noch besonders angetan von der Idee, uns Anfang Januar bei entsprechendem Wetter irgendeine Stadt zu erlaufen, kamen wir auf die Idee, mal nach Unterkunft in Klöstern zu googeln.

Die Seiten des Klosters Himmerod in der Eifel machten dabei einen sehr freundlichen, offenen Eindruck. Weit ab vom Trubel, schlicht, und vor allem angenehm unmissionarisch – man würde so viel oder so wenig am Klosterleben teilnehmen können, wie man wollte, das heißt im schlechtesten Fall würden wir ein paar Tage in der verschneiten Eifel verbringen.

Die Entscheidung, uns dort für vier Nächte über den Jahreswechsel einzuquartieren, war letztlich goldrichtig. Das Gästehaus war zwischenzeitlich voll belegt; viele schienen seit Jahren zu diesem Anlass hinzufahren und kannten sich, darunter Einzelne, Paare wie wir, aber auch ein paar Familien, mit denen wir uns teilweise richtig gut verstanden. Der Pater, der uns Gäste betreute, war herzlich und charismatisch, und trotz seiner 80 Jahre absolut wach und modern. Seine Meditationen wurden von einigen Gästen musikalisch und auch mit selbst mitgebrachten Texten unterstützt und begleitet, und halfen neben dem Besuch der regelmäßigen Gebete der Brüder über den Tag verteilt dabei, innerlich runterzukommen und den Blick und die Seele zu weiten.

Silvester selbst haben wir auch mit vielleicht gut 30 Leuten in einem solchen meditativen Gottesdienst verbracht, von halb elf bis nachts um halb eins. Mal ganz anders. Fernseher, Dinner for One oder Geböller, das alles hat kein bisschen gefehlt. Und mit dem im Auto extrem gut gekühlten Sekt haben wir natürlich trotzdem anschließend angestoßen.

Die gemeinsamen Mahlzeiten sind dort einfach, aber lecker und reichhaltig, und auch als Nicht-Fleisch-Esser kommt man nicht zu kurz. (Schon das Brot aus der klosternahen Bäckerei war so köstlich, das wir uns zur Abreise einen Laib mitgenommen hatten, dessen Rest auch jetzt nach über einer Woche noch genauso frisch ist. Phänomenal.) Neben den Gebeten, Meditationen und Mahlzeiten blieb genügend Zeit, einfach nur zu lesen, in der malerischen Landschaft zu spazieren oder auch mal einen Ausflug nach Trier zu machen.

Insgesamt tat es gut, dort zu sein und etwas von der Ruhe zu tanken, die wir uns erhofft hatten. Und ich habe gemerkt, wie sehr mir fehlt, mal wieder so eine Woche zu verbringen, so wie in Taizé, wo ich seit 10 Jahren nicht mehr war. So dass wir gleich beschlossen haben, die erste Woche unseres geplanten Frankreich-Sommerurlaubs nach Taizé zu verlegen. Und nächstes Mal an Silvester werden wir sehen, ob wir nicht wieder nach Himmerod fahren.

2014

Aus der Puste. Das trifft meinen derzeitigen Zustand vielleicht am besten. Das war wahrscheinlich mein arbeitsreichstes Jahr überhaupt. Doch auch wenn ich die Drehzahl der letzten 10 Wochen zum Schluss nur noch auf Reserve durchgehalten habe, so war es doch weitgehend positiver Stress, der auch belohnt wurde. Wie z. B. mit der Produktfreigabe am letzten Arbeitstag, das war vergangenen Freitag, um 16:10 Uhr – die erste Produktversion, für die ich von Anfang im Herbst 2012 bis zum Ende komplett verantwortlich war, und in die viele Ideen eingeflossen sind, auf deren Umsetzung ich jetzt stolz bin. Insgesamt hat sich also an meiner positiven Einstellung zum Job im Vergleich zum vergangenen Jahr nicht viel geändert, und ich bin noch genauso dankbar für dieses Privileg.

Die Balance mit dem Leben außerhalb der Arbeit hat hierunter absehbarerweise gelitten; in den letzten Wochen war ich nicht einmal mehr in der Lage, einmal die Woche abends mit dem Vokalensemble zu proben (vom Bloggen ganz zu schweigen), und die Möwe und ich hatten auch schon mal mehr Zeit mit- und füreinander. Aber auch gesundheitlich werde ich im nächsten Jahr mehr für mich tun müssen; dieses „aus der Puste“ ist leider nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Spätestens wenn die erste Produkteinführungsphase Ende März vorbei ist, muss einiges mehr Raum bekommen.

Ich freue mich auf 2015, auf ein weiteres Jahr an der Seite meiner Möwe, darauf, wie sich meine Söhne entwickeln werden, auf ein, zwei Projekte rund ums Haus, auf die privaten und beruflichen Reisen und auf die Arbeit. Und ich werde mich freuen, wenn auch ihr alle gesund bleibt (oder: werdet!), glücklich mit euren PartnerInnen und Familien seid und Dinge tun könnt, die euch Freude machen. Das wünsche ich euch.

Guten Rutsch!

Judith Holofernes im E-Werk

Was für eine anstrengende und frustrierende Arbeitswoche. Bin ich froh, dass ich kurzfristig noch eine Karte gekauft hatte, nachdem ich erfuhr, dass Judith Holofernes am Freitag im Erlanger E-Werk auftreten würde. Zusammen mit einer Band von lauter MultiinstrumentalistInnen spielte sie Songs von ihrem Soloalbum Ein Leichtes Schwert (plus – wohl um überhaupt auf Konzertlänge zu kommen – eine Reihe von eingedeutschten Coverversionen sowie den Titelsong ihres allerersten Soloalbums Kamikazefliege). Und verbreitete dabei so viel Spaß und Begeisterung, dass die Woche doch noch mit einem glücklichen, breiten Grinsen (und mal wieder etwas sekundenverliebt) endete.