21.09. – Medizinversagen, USA-Reisen und der Blick ins Universum

Ich fürchte, es wird heute etwas monothematisch. Aber man sucht sich die Themen nicht aus.

***

„Rebecca continues to be paranoid“ – was eine Ärztin halt so notiert, als eine ehemalige Krebspatientin sie aufsucht, besorgt wegen Schwellungen an den Beinen. Sie wird beschwichtigt, nicht weiter untersucht, und vier Wochen später, als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, stellt man schließlich fest, dass sie Metastasen im ganzen Körper hat. Dabei wurde schon der ursprüngliche Gebärmutterhalskrebs, den sie überlebt hatte, viel zu lange nicht erkannt, sondern für eine Infektion gehalten.

I am here now as a poor substitute to share her message: You know your body. You know when something is wrong. Trust yourself. We are all afraid of falling through the cracks. And we ought to be, because it happens.

Ihre Schwester hat die traurige und zornig machende Geschichte aufgeschrieben.

***

Dass Ärzt*innen Patient*innen nicht immer ernst nehmen, hat sicher auch mit Ausbildungen zu tun, in denen Patientengespräche und Sozialwissenschaften nicht so wichtige Lehrinhalte sind, und mit einem primär auf reibungslose Abläufe und Finanzen optimierten Medizinbetrieb. Aber wie in vielen Dingen wirken hier noch zusätzlich die gesellschaftlichen Gefälle. Frauen wird weniger geglaubt als Männern, ihre Schmerzen und Symptome werden als weniger relevant eingeschätzt, und ihre Krankheitsbilder zudem schlechter erforscht und verstanden:

Der Grund, warum wir weibliche Herzinfarktsymptome wie Übelkeit, Müdigkeit oder Schulterschmerzen als »atypisch« bezeichnen, meint Dusenbery, liege eben daran, dass die Mediziner die »typischen« Symptome am Prototyp Mann lernen. Bei Frauen tendieren Ärzte nachweislich eher dazu, psychologische Ursachen zu vermuten: Stress, Überlastung, Angst. »Beruhigen Sie sich mal wieder«, ist ein Satz, den Frauen häufiger hören.

In die gleiche Kerbe schlägt dieser etwas frühere Artikel: Medicine Has a Sexism Problem, And It’s Making Sick Women Sicker.

Vor einigen Wochen gab es eine Menge von Tweets – leider ohne verbindenden Hashtag, so weit ich mich erinnere – in denen viele Frauen hanebüchene Geschichten von verkannten Diagnosen, jahrelangem Leiden oder lebensgefährlichen Notfällen und von Ärzten abgebügelten Bedenken oder Nachfragen erzählten. Erschreckend.

Gut Immerhin, dass das Thema mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung anzukommen scheint.

***

Besonders frustrierende, teils erniedrigende und zuweilen verantwortungslose Behandlung im Medizinbetrieb erfahren Dicke. Dieser lange, lesenswerte Artikel befasst sich mit dem Versagen der Medizin und Mediziner*innen, seit Jahrzehnten aufgehäufte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Nutzlosigkeit von Abnehmdiäten und die Unabhängigkeit von Gewicht und Gesundheit umzusetzen. Und mit strukturellen Faktoren: wie z. B. Versicherungen und Politik Dicke auch ihrerseits krank machen, zusätzlich zum ohnehin schon täglichen Bullying durch Mitmenschen. Krank im Wortsinn, denn zum Einen scheuen viele den Gang in die Arztpraxis oder das Krankenhaus, weil sie zu Recht befürchten müssen, anstatt ernst genommen zu werden wieder nur zu hören, dass alle Probleme mit ihrem Gewicht zu tun haben und sie sich nur mal zusammenreißen müssten. Krank auch zum Anderen, weil Diskriminierung von Dicken sozusagen amtlich abgesegnet ist, und permanente Ablehnung psychischen Stress und Leid erzeugt.

“It borders on medical malpractice,” says Andrew (not his real name), a consultant and musician who has been large his whole life. A few years ago, on a routine visit, Andrew’s doctor weighed him, announced that he was “dangerously overweight” and told him to diet and exercise, offering no further specifics. Should he go on a low-fat diet? Low-carb? Become a vegetarian? Should he do Crossfit? Yoga? Should he buy a fucking ThighMaster?

“She didn’t even ask me what I was already doing for exercise,” he says. “At the time, I was training for serious winter mountaineering trips, hiking every weekend and going to the gym four times a week. Instead of a conversation, I got a sound bite. It felt like shaming me was the entire purpose.”

***

Ob Frauen, Dicke, Schwarze, Intersexuelle, Arme, Behinderte – als Patienten werden viele Bevölkerungsgruppen im Schnitt schlechter versorgt als wir bürgerlichen, normgewichtigen, weißen, nichtbehinderten Cis-Männer. Was ja nicht zufällig der vorherrschenden Demographie der Ärzteschaft entspricht. Diversität ist vielleicht kein Allheilmittel, aber es ist verdammt noch mal Zeit, den Beruf weit zu öffnen.

***

Auf unserer Bucketlist für große Sehnsuchtsreisen steht neben Zielen wie „Kanada“ und „Neuseeland!!1!“ immer noch „USA“, was aber erst einmal auf Wiedervorlage in ein paar Jahren gesetzt wurde, aus Gründen. Dabei scheinen interessanterweise viele Touristen weniger Probleme mit der Willkommenskultur in den Vereinigsten Staaten zu haben als ich oder meine private Filterbubble. Zwar hat sich wohl die Länderzusammensetzung verschoben, aber tatsächlich sind laut amtlichen Statistiken die Besucherzahlen insgesamt gewachsen.

Jedenfalls ist Muserine derzeit im Südwesten der USA unterwegs und ihre Bilder auf Instagram erinnern mich daran, dass ich schon irgendwann noch selbst im Monument Valley stehen oder einen Sonnenaufgang im Antelope Canyon erleben möchte.

***

Mein nächster Trip in die Staaten steht nichtsdestoweniger fest: Ende November für eine Woche nach Chicago. Allerdings wie immer rein beruflich. Für Späße ist die Stadt Ende November ohnehin zu kalt und windig.

***

Ein Text, den die wunderbare Katie Mack, twitternde Astrophysikerin, gestern Nacht angesichts des Sternenhimmels geschrieben hat:  Disorientation: A Twitter Poem.

I want you to taste the iron in your blood and see its likeness in the rust-red sands on the long dry dunes of Mars, born of the same nebular dust that coalesced random flotsam of stellar debris into rocks, oceans, your own beating heart

Auf dass uns der Blick ins Universum schwindlig machen möge.  (Tolles Foto auch.)

15.9. – Polizeiberichte, Instagram, Büro

Vor einigen Tagen widmete sich Vice dem Fall einer Frau, die offensichtlich wegen eines Antifastickers in einem Münchener Park von jemandem beschimpft und bewusstlos geschlagen wurde – und dem Fehlen jeder Notiz darüber im Polizeibericht. Gleichzeitig werden andere Vorfälle in der Stadt, darunter auch vergleichbare Gewaltdelikte durchaus gemeldet, vor allem auch inklusive jeder nicht-deutschen Nationalität von Beteiligten. In der Antwort der Polizei auf die Frage, nach welchen Kriterien etwas Eingang in ihren Bericht findet, gibt sie selbst zu erkennen, welche Gewalt sie für berichtenswert und im öffentlichen Interesse betrachet und welche nicht, in welchen Fällen schwebende Ermittlungen ein Hindernis sind, während in anderen Fällen auch ohne ermittelten Hintergrund Meldungen rausgegeben werden.

Dieses Ungleichgewicht hat System, was dieser äußerst lesenswerte Hintergrundbericht von correctiv.org am Beispiel der Stadt Wien aufzeigt: Welche Vorfälle Polizeidienststellen auswählen, worüber sie fast gar nicht berichten, und wie das mit Hilfe der Medien, die meist 1:1 übernehmen, was gemeldet wird, die öffentliche Wahrnehmung von Sicherheit und Gewaltbedrohung formt. Zitat eines Kriminalsoziologen:

„Die Polizei hat es gern, wenn die Gesellschaft ordentlich und sauber ist. Nach dem Muster: Wir sind die Normtreuen, und dann gibt es am Rand der Gesellschaft die Bösen, die Handtaschen rauben oder mit Drogen dealen.“ Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft, Rassismus oder Vergewaltigungen zum Beispiel, passe nicht in dieses Bild.

Besondere Probleme scheint die Polizei immer zu haben, Straftaten von rechts als solche zu erkennen und zu behandeln. Nicht nur die gefärbte Auswahl der Polizeiberichte, sondern sogar Verfahrensweisen von Polizei und Justiz sorgen oft dafür, dass sie gar nicht erst auftauchen. Also vom oben genannten Fall, wo erst ein Staatsanwalt einer Veröffentlichung zustimmen müsste (warum zum Teufel?), bis hin zu den Mordopfern des NSU, die auch jetzt, Jahre später und nach abgeschlossenem Prozess nicht als Opfer rechten Terrors auftauchen, weil – festhalten! – der Eingangsverdacht ein anderer war. So lässt die gleiche Blindheit für rechte Gewalt, die das jahrelange NSU-Morden überhaupt mit ermöglicht hat, auch heute noch die Opfer verschwinden.

Man muss sich immer bewusst sein, dass die Polizei eine Menge Hebel – vom Eingangsverdacht über Ermittlungswillen, Auswahl der berichtenswerten Meldungen, dem darin vermittelten Bild von Polizist*innen und anderen beteiligten Personen bis hin zur Statistik – in unserer medialen Wahrnehmung von Kriminalität in der Hand hält. Und bei allem Respekt für polizeiliche Arbeit agiert sie mit eigenem politischen Interesse und hat nach wie vor Probleme auf dem rechten Auge. Ich lese Polizeiberichte und darauf basierende Nachrichten (nicht zu vergessen auch Polizeitweets) deswegen schon seit Jahren nur mit Vorsicht.

***

Zurückgekehrt auf Instagram. Um den Jahreswechsel hatte ich die Nase voll; man öffnete die App, sah ein Foto, wollte es womöglich kommentieren, in dem Moment aktualisierte sich die Timeline und man fand das Foto nie wieder. An Silvester wurden mir Fotos von Heiligabend-Bescherungen angezeigt. Zuweilen war jedes dritte Posting der Timeline Werbung, teilweise mit unaufgefordert loslaufenden Videos mit Ton.

Mit der Werbung ist es in der Zwischenzeit nicht besser geworden und chronologische Timelines sind auch nicht zurückgekehrt. Aber zumindest scheint der Algorithmus nur noch die letzten zwei Tage durcheinanderzuwürfeln und zeigt einem auch an, wenn man alles davon gesehen hat. Das Mitlesen hatte ich ohnehin nie ganz aufgehört, einfach weil mich eure Fotos und was ihr so den Tag über macht natürlich weiter interessiert haben (zumal bei denen, die nicht auch auf Twitter sind). Im Urlaub gab es außerdem das eine oder andere Foto, was ich gerne auf Instagram geteilt hätte. Nun, das hole ich jetzt ein wenig nach.

Dieser Anblick auf meiner Morgenrunde gab den letzten Anstoß:

***

Auf Instagram fiel jemandem, der offenbar auf den Färöern Skuas beringt, eines meiner Skua-Fotos auf (alleine für soetwas ist Instragram cool) und er fragte, ob man den Ringcode auf dem Foto entziffern könne. Es stellte sich heraus, dass sie nicht zu „seinen“ Vögeln gehörte, aber ich habe ein wenig gegoogelt und eine Seite gefunden, auf der man Sichtungen farblich beringter Vögel melden kann, beziehungsweise die Kontaktperson des jeweiligen Beringungsprojekts finden. So habe ich diese Skua gemeldet und noch eine zweite mit Ring, deren Code man lesen konnte. Mal sehen, ob ich Feedback bekomme, wann und wo diese Vögel beringt wurden. Spannend.

***

Überhaupt wächst in mir der Wunsch, irgendwann einmal für ein paar Tage mitzuhelfen, wilde Vögel zu beringen. Das stelle ich mir anstrengend, aber auch sehr glücklich machend vor.

***

Auf der Arbeit läuft gerade alles auf einen wichtigen Meilenstein im Oktober zu, für den ich weitgehend mitverantwortlich bin, und wofür jetzt täglich aufgeregte Statusmeetings stattfinden und dutzende Mails mit Fragen, Aufgaben und Dokumentenreviews in meiner Inbox aufschlagen. Die Informationsflut fordert erste Opfer; was ich nicht sofort aufschreibe, ist im nächsten Moment weg, und ich bin nachts lange wach – (noch) nicht aus Angst, nicht mehr nachzukommen, aber weil mein Hirn nicht zur Ruhe kommt. Ich hoffe, ich halte das bis Ende Oktober, wenn der erste Gipfel bewältigt sein wird, einigermaßen durch. Außerdem habe ich in der ersten Novemberwoche vorsichtshalber schon zwei Urlaubstage für ein verlängertes Wochenende am Chiemsee genommen. So.

Schottland 2018, Tag 19-22: Letzter Tag Islay und Rückfahrt mit Hindernissen

Nach drei Tagen gutem bis herrlichem Wetter begann unser letzter Tag bedeckt und mit Schauern. Wir entschieden uns für eine Waldwanderung nahe Bridgend in der Mitte der Insel. Auf guten Waldwegen erreichten wir die Woolen Mill, einer kleinen Weberei in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, in der heute noch mit den alten Geräten Tweeds und andere Stoffe gewebt werden. Wir durften einen Blick hinter den Verkaufsraum in die Produktion werfen, wo zwei Männer arbeiteten: meine Herrn, Ordnung und Arbeitssicherheit schienen dort noch auf dem gleichen Stand wie Gebäude und Geräte zu sein. Alleine die Löcher im Fachwerkboden des oberen Geschosses… Wäre mir nicht selbst im Winter mit langärmeligem Hemd ohne Unterhemd schon beinahe zu warm im Büro, ich hätte mir vielleicht ein schönes Tweedhemd oder eine Weste gekauft. Aber so hübsch alles im kleinen Verkaufsraum aussah, irgendwie war nichts dabei, und ich fotografierte lieber draußen die vielen Sperlingsvögel am Futterspender.

Für den Weg zurück zum Ausgangspunkt lautete die Beschreibung:

When the route emerges from the trees at a track, go straight across through another gate into a band of woodland known as the Claggan Strip. Here the path can be very wet and there may be fallen trees to climb over. At a crossroads continue straight ahead on the narrow path.

Nun. Dass sich dahinter drei schier endlose, matschtriefende Kilometer eines eng bewachsenen Trampfelpfads im Wald ohne Aussichtspunkte auf irgendwas verbargen, kommt finde ich nicht so ganz rüber, zumal sonst jeder Stein am Wegesrand beschrieben wurde. Fluchend und erleichtert erreichten wir irgendwann endlich wieder richtige Wege und eine Brücke über ein malerisches Flüsschen im Sonnenschein mit reifen und wilden Himbeeren drumherum, als wäre das hinter uns nur ein schlechter Traum gewesen. Aus Faulheit, einzukaufen, aßen wir im nahe gelegenen Hotel an der Hauptstraße eine Kleinigkeit zu Mittag, wo man freundlicherweise die Küche für uns noch offen ließ. Nach einem Blick in die örtliche Mall (naja, ein kleiner Platz mit Geschäften drumherum, in denen es Whisky, Batikbilder, Quilte und Ähnliches zu kaufen gibt) fuhren wir zurück nach Hause und verbrachten den Nachmittag mit Lesen.

Was einem beim Autofahren auf Islay auffällt, ist die ausgesprochene Freundlichkeit. Dass man sich gegenseitig per Handzeichen bedankt, wenn man einander auf einer Single Track Road vorbeilässt, hatte ich in den vergangenen Jahren schon gelernt. Aber hier schien man sich grundsätzlich so zu begrüßen, bei jedem Auto, was einem auf der normalen Landstraße begegnete. Daran kann man sich schnell gewöhnen. Und wie frustrierend, wenn man dann zurück in Deutschland nicht einmal mehr ein Handzeichen bekommt, wenn man in einer engen Straße extra für den Gegenverkehr angehalten hat.

Was ich ansonsten an schottischen Straßen nicht verstehe ist, warum in einem so weiten und quasi leeren Land selbst die normalen Landstraßen kaum Platz für zwei sich begegnende Lastwagen lassen, und auch noch zusätzlich rechts und links der Fahrbahn ohne den kleinsten Streifen sofort Mauern oder Bäume stehen müssen (Beispiel siehe Foto).

Am frühen Abend fuhren wir noch mal los, um Kildalton Cross und noch ein wenig von der Landschaft hinter Ardbeg die Küste lang zu sehen. So gut wie völlig allein auf der Single Track Road fuhren wir zur Kirchenruine Kildalton, wo das steinerne Kreuz aus dem 8. Jahrhundert steht, und dann noch einmal weiter die Küste entlang bis zu einem Kieselstrand, um noch einmal etwas vom Anblick des Meers aufzusaugen.

Es war der Abend der totalen Mondfinsternis, und ich hatte schon Monate vorher herausgefunden, dass der Kupfermond über dem Meer vor unserer Bucht aufgehen würde, ideal, womöglich sogar für ein Foto mit der Burgruine im Vordergrund. Was im Nachhinein natürlich naiv war anzunehmen, man könne in Schottland überhaupt einmal abends einen freien Himmel am Horizont sehen, ohne Dunst und Wolken. Schade, so bleibt es bei meinen Fotos früherer Finsternisse, die zwar schön sind aber leider noch mit deutlich schlechter auflösendem Equipment, also unvergrößerbar.

Wir hatten abends schon alles gepackt, und so brauchten wir früh nur noch aus dem Bett zu fallen und waren um viertel nach sechs am nahe gelegenen Fährhafen. Der strömende Regen machte den Abschied von der Insel leicht. Aber sie bleibt uns als entspannter, überhaupt nicht überlaufener, freundlicher Ort mit wunderbarer Landschaft in Erinnerung, und wärmer als in den Tagen auf den nördlicheren Hebriden war es dort auch. Also selbst wenn einem Whisky und die vielen Distillerien völlig schnurz sind: große Empfehlung.

Runter von der Fähre und Fahrt im Regen zurück nach Oban. Nachdem wir den Mietwagen abgegeben hatten, blieben uns noch drei Stunden bis zur Abfahrt des Busses, die wir damit verbrachten, am Hafen entlang zu schlendern und uns ein köstliches, preiswertes Mittagsmenü im Fischrestaurant zu gönnen, mit Blick auf die Hjalmar Bjørge, die dort nach einer weiteren zwischenzeitlichen Tour darauf wartete, erneut abzulegen. Als wir rauskamen, trafen wir dann am Pier meine Arbeitskollegin. Sie war von meinen Reiseerzählungen letztes Jahr so angeschaltet, dass sie für sich und ihre Mutter ebenfalls die 9tägige Tour inklusive St. Kilda gebucht hatte, und war nun dabei, an Bord zu gehen. Natürlich hatte sie kein bisschen damit gerechnet, mich dort zu treffen. Sehr lustig.

Drei Stunden Busfahrt nach Glasgow, dann mit einem Stadtbus zum Hotel (habe ich dieses Jahr schon Google Maps gelobt?), und um zumindest noch einen kurzen Blick in die Stadt zu werfen, liefen wir bei stürmischem, kaltem Wind und Schauern zwei Meilen ins Zentrum, wo die Party People schon den Samstagabend einläuteten. Wir tranken nur irgendwelche Kaffee-Kakao-Kombinationen als letzte Gäste bei Starbucks und liefen wieder zurück. So recht haben wir kein Glück mit Glasgow, und ich weiß nicht, ob mir diese Stadt irgendwann noch einmal richtig gefallen wird.

Nach gemütlichem Frühstück mit dem deutlich billigeren Stadtbus zum Flughafen. Der Flug sollte wie auf dem Hinweg über Düsseldorf zurück nach Nürnberg gehen. Wir waren früh genug am Check-In (nur ein Schalter besetzt), aber dann ging alles schief. Das gleiche Eincheck-Problem wie beim Hinflug: Statt Tickets und Gepäck-Tags auszudrucken ein „Unexpected Error“. Ich sagte sofort, dass man uns beim Hinflug schließlich hatte neu einbuchen müssen. Aber die Mitarbeiterin rief erst einmal eine „Managerin“, um die Schlange nicht aufzuhalten. 10 Minuten später kam sie dann auch. Brauchte eine Viertelstunde, um sich einzuloggen, weil das Tagespasswort nicht zu gehen schien. Hörte meiner Erklärung überhaupt nicht zu. Redete nicht mit uns. Tippte minutenlang verloren in der Software rum. Schickte uns dann an einen anderen Schalter. Am anderen Schalter war der entsprechende Kollege gerade weggegangen. Die nächsten 10 Minuten rum. Dann tauchte er auf, ich erklärte, wie wir beim Hinflug zu Karten gekommen waren, aber das schien auch ihn nicht zu kümmern, jetzt tippten sie zu zweit rum, nebendran wurden alle anderen Passagiere eingecheckt, schließlich war der Schalter zu und irgendwann unser Flug weg. Der Herr sagte uns was von „was organisieren“ und „back in 5 minutes“, die Managerin verschwand und wir standen ganz alleine da. Nach einer Dreiviertelstunde, als wir längst dachten, man hätte uns ohne irgendetwas in der Hand zu haben einfach sitzen gelassen, kam er raus, drückte uns einen Zettel in die Hand mit dem Namen eines Hotels in Edinburgh und einer Parkdecknummer, wo uns gleich ein Taxi nach Edinburgh abholen würde. Wir wären jetzt am nächsten Tag nach München mit Lufthansa gebucht, um 17:45 Uhr.

Der Taxifahrer kam tatsächlich, wir mussten für die Dreiviertelstunde Fahrt nach Edinburgh nichts zahlen, und auch das Flughafenhotel war offenbar für uns bezahlt samt Essensgutscheinen. Immer noch ziemlich unter Strom durch die ganze Sache machten wir immerhin schon Pläne, den „geschenkten“ zusätzlichen Tag für einen Ausflug in die Stadt zu nutzen. Da ich aber noch keine Bestätigung über die Umbuchung von Eurowings hatte und es offenbar überhaupt keinen solchen Flug gab wie den uns genannten, rief ich erst einmal bei der Hotline an. Siehe da: Buchung nach München ja, aber mit Eurowings, und schon morgens um 8 Uhr. Na gut, das wir darüber gesprochen hatten. Ach ja, und Anschlussflug gäbe es nicht, aber ich könnte ja Zug fahren und die Fahrtkosten später einreichen. (seufz) Das Abendessen war allerdings sehr gut und das Hotel für Flughafenverhältnisse wirklich okay.

Morgens früh um sechs zum Check-In. Gleiches Spiel: „Unexpected Error“. Gnaa. Diesmal waren wir aber gottseidank an eine kommunikative wie smarte Mitarbeiterin geraten, die sofort auf die richtige Idee kam, die IT-Hotline in Deutschland anzurufen, und so hatten wir wenige Minuten später endlich unsere Tickets. Die restlichen Unannehmlichkeiten am Münchener Flughafen und der Zugfahrt bei weit über 30 Grad lassen wir mal unter den Tisch fallen, irgendwann um vier Uhr waren wir schließlich auch zuhause. Ich musste den Tag nachträglich noch als Urlaub nehmen (was ausgesprochen schmerzt), und jetzt warte ich auf die Rückerstattungen der Auslagen und den nach EU-Recht zustehenden Schadensersatz der Fluggesellschaft. Das war dann aber auch der einzige Wermutstropfen eines ansonsten tollen Urlaubs, von dessen Erlebnissen ich immer noch zehre. Mal sehen, ob wir es nächstes Jahr überhaupt schaffen, mal wieder anderswo Urlaub zu machen.

Schottland 2018, Tag 15-18: Islay

Der Montag begann mit Regen. Um den Tag nicht nur drinnen zu verbringen, sprachen wir das Mantra „Herrlichstes Islandwetter!“, schlüpften in regenfeste Kleidung und liefen bei dichtem Niesel die Küste Richtung Osten weiter. Bis nach Ardbeg führt von Port Ellen aus ein eigener, komfortabel ausgebauter Wanderweg, auf dem Alkoholfreunde, sicher getrennt von der Landstraße, die drei Distillerien Laphroig, Lagavulin und Ardbeg besuchen können. Hinter Ardbeg bleibt nur noch eine Single-Track-Road, allerdings fährt dort auch fast niemand mehr. Wir liefen bis zu einer verlassenen Bucht mit Felsen und ein paar Robben und beschlossen, dass das genug Wanderung für einen Regentag sei. Auf dem Rückweg machten wir im gut besuchten Ardbeg Café Halt, um bei einem Kaffee einen ausgesprochen leckeren Waffle Mountain zu verputzen. Den Rest des Tages verschlumpften wir lesend im Haus und liefen abends, als der Himmel etwas aufklarte, zur Ruine am Ende unserer Bucht und schauten aufs Meer.

Dienstagmorgen ging es zur Halbinsel The Oa, um im dortigen RSPB-Reservat (das ist der britische Vogelschutzbund) eine mehrstündige Führung mitzumachen. The Oa ist eines von zwei Reservaten auf der Insel, die dem RSPB gehören, und auf dem sie demonstrieren, wie sich die Förderung von Artenvielfalt mit profitabler und nachhaltiger Landwirtschaft verbinden lassen. Sie haben dabei verschiedene Vogelarten im Fokus, mit teilweise extrem unterschiedlichen Ansprüchen an ihr Habitat. Hier an den Ländereien nahe der Steilküste sind das vor allem Steinadler (Felsen), Alpenkrähen (kurz gefressene Viehweiden) und Wachtelkönige (hohe Gräser). Sie pflanzen Wildkräuterstreifen zwischen den Weiden und Feldern, schreiben dem angestellten Landwirt vor, wann und wie er welche Flächen mäht und er seine Rinder und Schafe grasen lässt, und versuchen mit vielen kleineren und größeren Maßnahmen, die gesamte Vielfalt an Pflanzen, Insekten bis hin zu Säugetieren und Vögeln zu steigern, wobei sie ihre Aktivitäten wissenschaftlich begleiten und so auch zum Vorbild für Landwirte und Artenschutzpolitik werden wollen. Das alles erklärte uns ein Volunteer während unserer kleinen Wanderung rund um die Halbinsel bis zum American Monument und zurück, wobei wir zwischendurch immer wieder stehen blieben, um die Wildziegen („die sind hier irgendwann eingewandert, wir lassen sie einfach machen und zählen sie nur einmal im Jahr“) zu betrachten, dem kratzenden Ruf des Wachtelkönigs zu lauschen oder – leider ohne Erfolg – nach den Steinadlern Ausschau zu halten. Ein lehrreicher Vormittag bei herrlichem Wetter, wo zwischen Schönwetterwolken immer wieder die Sonne hervorkam.

Nach einem Picknick mit Blick aufs Meer bis zur Küste Nordirlands und Irlands machten wir Stop am Flughafencafé von Islay, einem sehr knuffigen Flughafen, der die Insel mit einer Handvoll täglicher Flüge kleiner Maschinen mit Glasgow und ein paar anderen Orten der Highlands verbindet. Das Wetter wurde bedeckter und windiger, wir liefen noch etwas durch Bowmore und kauften dort ein, einschließlich eines gutes Steaks vom Inselmetzger, das wir am Abend zuhause mit Genuss zu Salat und Brot aßen.

Für den Mittwochmorgen hatten wir uns zu einer Führung in der Distillerie Bruichladdich angemeldet. Fr. Eeek als Whisky- und Islayexpertin hatte sie uns Neulingen empfohlen, weil man dort als eine der wenigen Distillerien noch mit richtig altem Equipment arbeite. Das war nicht gelogen; ein Großteil der Anlagen, in denen das Malz verarbeitet und schließlich der Whisky destilliert wird, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Faszinierend, davor zu stehen und zu denken, dass die gesamte Produktion einer weltweit bekannten Marke durch die wenigen Geräte und Bottiche läuft, die man gerade betrachtet, mit Methoden wie vor mehr als hundertdreißig Jahren. Und überhaupt die tausend Faktoren, die alle den letztendlichen Geschmack beeinflussen, weswegen auch jeder Jahrgang, jede Charge wieder anders schmecken kann. Das ist ja eigentlich etwas, was moderne Qualitätssicherung um jeden Preis verhindern will, zugunsten immer gleicher, vorhersagbarer Resultate. Bei der anschließenden Verkostung probierten wir getorfte (also solche, wo das Malz über Torffeuer geräuchert wird) und ungetorfte Whiskys, aber wenn ich auch verstehen kann, was Whiskyliebhaber so begeistert, mir selbst schmeckt Whisky einfach nicht, ob getorft oder nicht. Was wir aber beide mochten und wovon wir auch ein Fläschchen mitnahmen, war der ebenfalls in der Anlage hergestellte Gin, der mit jeder Menge Wildkräutern der Insel aromatisiert wird und herrlich duftet.

Im benachbarten Port Charlotte besuchten wir das kleine, sehr sehenswerte Museum of Islay Life, in dem von den Funden der Steinzeit bis heute viele interessante Gegenstände gezeigt werden, die vor allem auch das einfache, ländliche Leben früherer Zeiten illustrieren. Besonders berührend ist die Geschichte des Jahres 1918, als Islay binnen weniger Monate Schauplatz zweier verheerender Kriegsschiffsunglücke wurde. Ein amerikanisches Schiff vor der Küste wurde von einem deutschen Torpedo getroffen, ein anderes sank nach einer Kollision, und jedesmal sah sich die Bevölkerung  der ansonsten abgeschiedenen Insel plötzlich mit hunderten Überlebenden und Toten konfrontiert, was sie bewunderswert und menschlich meisterten. Vielleicht am bewegendsten illustriert in der von den Frauen aus nach einem Lexikonfoto genähten, provisorischen amerikanischen Flagge zur Bestattung, und dem Notizbuch des Inselpolizisten, der die Toten am Strand ablief und zu jedem alle identifizierenden Merkmale aufschrieb, damit seine Angehörigen später Gewissheit haben könnten.

Es war inzwischen wärmer geworden als alle Tage zuvor, und so fuhren wir zur Saligo Bay, um dort einfach nur zu sitzen und Sonne zu tanken. Strandurlaub!

Den Donnerstag begannen wir mit einer Tour des zweiten RSPB-Naturreservats Loch Gruinart. Zwischen den zwei großen Inselteilen liegt eine flache, in früheren Erdzeiten überschwemmte Ebene, heute eine Moorlandschaft, wo der RSPB ebenfalls eine Farm betreibt, wie am Oa. Hier liegt der Fokus neben Kornweihen und Faltern vor allem darauf, den aus der Polarregion durchziehenden Watvögeln gute Rastmöglichkeiten zu geben und zehntausenden Weißwangengänsen ihr Winterquartier. Dadurch, dass frühere Generationen von Bauern Gräben und Deiche angelegt hatten, haben sie hier neben allen anderen Faktoren auch noch die volle Kontrolle über den Wasserstand und können so übers Jahr verteilt ideale Bedingungen für die jeweiligen Arten schaffen. Wir liefen durch Moorlandschaft mit flachen, knorrigen Bäumen, über Feuchtwiesen und durch einen echten kleinen Wald und dazu schien die Sonne bei stürmischem Wind. Wir sahen Rotwild am Horizont, jede Menge unterschiedlicher Falter und bunte Raupen.

Als wir die wieder einmal spannende und landschaftlich schöne Führung beendet hatten, fuhren wir noch etwas weiter hinauf nach Ardnave und machten dann eine längere Wanderung um die Landspitze. Die ganze Zeit blies der Wind konstant, die Sonne schien und der Meeresarm leuchtete in vollkommen unwirklichem Blau und Grün. Darüber, Richtung Jura und Colonsay, schwebten mittem im Sturm Lentikularis-Wolken, die ich noch nie im Leben bewusst gesehen hatte: Sie sehen aus wie kleine Ufos oder Porzellanscheiben, sind stationär (die Luft strömt durch sie hindurch), und sie entstehen, wenn die Luftschichten temperaturmäßig stabil sind und ein kräftiger Wind auf Berge trifft, die ihn nach oben katapultieren. Ein Nachmittag in geradezu surrealer Landschaft, in dem wir in Wind, Sonne und Farben nur so gebadet haben.