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Hirn entknoten

Ich nehme schon ein bisschen von dem wahr, wie ungleich und schlechter Frauen im Vergleich zu Männern in nahezu allen Gesellschaften behandelt werden, was an Stereotypen über Frauen wie Männern schief oder falsch bis gefährlich ist, und wie sich Privilegien als weißer, nicht behinderter, wirtschaftlich gut situierter, heterosexueller Mann wohl gestalten und überlagern. Aber die schiere, offenbar allgegenwärtige Übermacht dieser Verhältnisse und nicht zuletzt die unbestreitbare eigene Verwicklung darin machen es schwer, darüber überhaupt gezielt nachzudenken und nicht schnell überwältigt und kleinmütig zu werden. (Oder sich bei den tausend überall herumliegenden Gründen zu bedienen, dass diese Verhältnisse gar nicht existierten, oder von der Natur vorgegeben seien, oder halb so schlimm, oder ganz auf den Kopf gestellt und andersherum, oder die Schuld anderer, oder man sowieso nichts daran ändern könnte usw. usf.)

Hier hilft es, wenn jemand diesen dicken Knoten einmal aufdröseln kann, die ganzen realen Auswirkungen unserer Gesellschaftsordnung aufführt, worin sie wurzeln, was sie mit denen tun, die zur dominierten wie auch der dominierenden Gruppe gehören, welche Strategien der Verneinung existieren, was das mit einem selbst zu tun hat und was man tun kann, um etwas zu Positiveren zu verändern. Eine solche Hilfe ist das Buch The Gender Knot. Unraveling Our Patriarchal Legacy von Allan G. Johnson, einem amerikanischen Soziologen. Ich hatte in den vergangenen Tagen beim Lesen das fortwährende Gefühl, dass da jemand Ordnung in meine Gedanken und vieles auf den Punkt bringt, was ich bislang nur diffus gedacht oder wahrgenommen hatte. Ich könnte jetzt seitenweise für mich augenöffnende Abschnitte zitieren, aber versuche lieber, ein paar der wichtigsten Punkte wiederzugeben.

Das Patriarchat mit seiner Männerzentrierung, -identifikation und -dominanz ist eine Gesellschaftsform, in der wir leben und die wir uns nicht ausgesucht haben. Damit ist es mehr als nur eine Summe von Individuen und ihren Verhaltensweisen. Das heißt, alle noch so lobenswerten Anstrengungen, durch Schulung und Bewusstseinsförderung einzelne Menschen dazu zu bewegen, etwas gegen die negativen Konsequenzen zu tun oder sich besser zu verhalten, werden an ihre Grenzen stoßen, wenn nicht das gesellschaftliche System dahinter thematisiert und verändert wird. Das gilt auch für uns selbst.

Unsere Tendenz, alle Probleme immer auf Fragen individueller Eigenschaften und Haltungen zu reduzieren, wird letztlich nicht nur wenig verbessern, sondern vermutlich das verursachende System dahinter unsichtbar und unangetastet lassen. Auf einem anderen Gebiet von gesellschaftlicher Unterdrückung lässt sich das z. B. mit den derzeit kursierenden Tweets vergleichen, die die Pegida-Sympathisanten persönlich lächerlich machen und angreifen sollen – sie dienen allerhöchstens dazu, sich in seiner Gruppe überlegen zu fühlen und werden am Ende mehr verschleiern als offenlegen, dass wir in einer grundsätzlich rassistischen Gesellschaft leben, die quer durch alle Gesellschaftsschichten und Institutionen voll von ganz selbstverständlichen, täglichen Signalen und Regeln ist, mit denen „deutsche“ Deutsche bevorzugt und Migranten herabgewürdigt und entmenschlicht werden. (Auch eine Stärke des Buchs, solche Parallelen zwischen verschiedenen Systemen gesellschaftlicher Macht und Unterdrückung sichtbar werden zu lassen.)

Mit am Praktischsten als Erklärungshilfe für die Wirkung eines Systems von Macht, Privilegien und Unterdrückung erweist sich Johnsons wiederholter Begriff des Wegs des geringsten Widerstands. Gesellschaftssysteme, die Macht ungleich verteilen und bestimmte Gruppen von Menschen unterdrücken, versuchen diese Tatsache unsichtbar zu machen. Es ist gewissermaßen eine Schlüsseleigenschaft von Privilegien, dass sie unsichtbar und unfühlbar daherkommen. So wie man als heterosexueller, weißer Mann zunächst einmal meinen kann, dass ein alleiniger, nächtlicher Spaziergang durch die Großstadt von nichts anderem als der eigenen Lust darauf abhängt. Und das Patriarchat baut uns tausend Pfade des geringsten Widerstands, uns unserer männlichen Privilegien nicht einmal bewusst sein zu müssen, Ungerechtigkeit wegzuschweigen oder -definieren, Kritik mit unseren guten Absichten wegzuwischen und jedes Nachdenken darüber zu erschweren, so wie am Ende des ersten Absatzes oben.

Ohne den Diskurs von den tatsächlich Unterdrückten, den Frauen, künstlich wegzulenken, beschreibt Johnson auch sehr eindringlich die Auswirkungen des Patriarchats auf Männer. Gewalt und das Vermögen, andere zu kontrollieren werden als männliche Ideale auf alle mögliche Weisen propagiert; damit müssen Männer zuallererst Angst vor anderen Männern haben, die ihre gesellschaftliche Stellung oder sogar ihr Leben gefährden können – und greifen ihrerseits zu Gewalt und Kontrolle als vermeintlich angstmindernden Gegenmaßnahmen. Das offenbar erst in der aktuellen 3. Auflage hinzugekommene Kapitel über Männlichkeit und Gewalt beschreibt die Konsequenzen in buchstäblich erschlagender Eindringlichkeit und zeigt am Beispiel, wie in einer öffentlichen Diskussion tatsächlich die allerstärkste Gemeinsamkeit aller Amokläufer der vergangenen Jahre nicht einmal wahrgenommen wurde (nämlich Männer zu sein), wie stark unsere Wahrnehmung der Realität vom Patriarchat und seiner vorgegebenen Deutung der Wirklichkeit verzerrt wird.

Johnson endet mit einem optimistischen Ausblick und einer Liste von Ideen und Aktionen, um auf dem Weg weiterzugehen, vom Lesen feministischer Literatur (die er im Anhang zuhauf aufführt) und dem Zuhören lernen über das Verlassen des Wegs der geringsten Widerstände und ändern des eigenen Verhaltens bis zu gemeinsamen Organisationen und Aktionen etwas gegen das Patriarchat zu tun und so mit hoffentlich vielen anderen dem reibungslosen und vermeintlich alternativlosen Lauf der Dinge etwas entgegenzusetzen, dass sich unsere Gesellschaft am Ende doch in Richtung eines gleichwertigen Miteinanders der Geschlechter bewegen kann.

Das Buch werde ich jedenfalls erst einmal nicht so schnell im Regal verschwinden lassen. Große Empfehlung. (Nur leider offenbar nicht auf Deutsch erhältlich.)

Allan G. Johnson, The Gender Knot, 3rd Ed., Temple University Press, 2014 (Verlagsseite mit Lesekapitel und Rezensionsstimmen)

Warum ein #aufschrei nicht reicht

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie vor anderthalb Jahren an einem späten Abend in meiner Twitter-Timeline @vonhorst und @marthadear die Steinchen ins Rollen brachten, die unter dem Hashtag #aufschrei eine Lawine von Tweets auslösen sollten, mit denen tausende Frauen ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus teilten, von „Witzen“, Belästigungen in der Öffentlichkeit und Diskrimierung bis hin zu körperlichen Übergriffen und blanker Gewalt. Es gab in meiner ganzen Online-Zeit kein Erlebnis, was mich vergleichbar beschäftigt und eine solche emotionale Wucht hatte.

Anderthalb Jahre später hat jetzt @marthadear / Anne Wizorek das Buch „Weil ein #Aufschrei nicht reicht – für einen Feminismus von heute“ geschrieben. Darin zeichnet sie zwar auch die Entstehung der Twitterkampagne samt anschließender Reaktion in den Medien nach (die nach wie vor so unbeirrt wie falsch schreiben, #aufschrei wäre durch den zeitgleichen Skandal um Reiner Brüderles verbale Ausfälle gegenüber einer Journalistin entstanden *seufz*), im Kern geht es aber darum, was Feminismus heute bedeutet und warum und an welchen Stellen er immer noch besonders gebraucht wird. Inwiefern verbreitete Ansichten, wir würden in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben, bei allen Errungenschaften immer noch Mythen sind. Wie stark unsere Ansichten über Körper, Fähigkeiten, Berufe, angemessene Verhaltensweisen immer noch sexistisch geprägt sind. Es geht um Frauenquoten, sexualisierte Gewalt, Schwangerschaft, die Pille danach, Zerrbilder des Feminismus als Männerhass, Online-Einschüchterungstaktiken und so weiter.

Nach diesem Panorama, was alles im Argen liegt, wirbt @marthadear in einem zweiten Teil für Mitstreiter_innen, um die bestehenden Verhältnisse zu verbessern. Und hier wird in meinen Augen die größte Stärke des Buchs deutlich: Es grenzt nicht aus, sondern schließt ein, auf allen Ebenen. Es werden keine Diskriminierungen gegeneinander ausgespielt, sondern im Gegenteil immer wieder aufgezeigt, wie sehr sich Sexismus, Transphobie, Homophobie, Ableismus und Rassismus in ihren Auswirkungen ähneln und überlagern – und daher auch nur solidarisch angegangen werden können. Und es spricht explizit die Männer an, macht klar, warum Feminismus vor allem auch ihr, bzw. unser Ding ist. Nicht nur, weil Veränderungen mit Hilfe männlicher Privilegien deutlich schneller voran kommen können, nicht nur, weil es verdammt nochmal selbstverständlich sein sollte, für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und gleichberechtigte Teilhabe aller einzutreten, sondern auch, weil wir selbst auch ganz direkt davon profitieren. Denn Männer werden ja nicht weniger in Rollen und Verhaltensweisen gezwängt, die sie verbiegen und ihre Entwicklung z. B. in Familie oder Beruf einengen. (Ich selbst habe bis Mitte 30 gebraucht, mich ganz als Mann zu verstehen und in meiner Haut wohlzufühlen, weil ich immer wieder gespiegelt bekomme, Männer hätten anders zu sein als ich.) Dass gerade die Tabuisierung männlicher Opfer von Gewalt, ein Thema das von sogenannten „Männerrechtlern“ reflexhaft bei jeder Thematisierung von Gewalt gegen Frauen vorgebracht wird, von den gleichen sexistischen Strukturen hervorgerufen wird, ist dabei eine kleine Ironie am Rande.

Insgesamt war ich überrascht, wie sehr ich mit allen Themen im Buch schon vertraut war. Hier wirkte wohl das, was @marthadear ebenfalls propagiert, nämlich die Effizienz, sich online mit Gleichgesinnten zu verbinden und voneinander zu lernen. Ich folge inzwischen vielleicht nur gut 20 Leuten und Gemeinschaftsaccounts, die sich vor allem mit diesen Themen auseinandersetzen, aber viele Links verteilen; alleine darüber habe ich schon eine Menge Denkfutter mitbekommen (und bekomme ich nach wie vor jeden Tag), wovon das Verständnis dessen, was Privilegiertheit bedeutet, sicher bislang das Wichtigste war. Und nicht zuletzt sprechen mir viele der Anliegen einfach aus der Seele und fielen daher von vorneherein auf fruchtbaren Boden.

(Kleiner Einschub. Womit ich noch am ehesten hadere, ist die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch. So sehr ich davon überzeugt bin, dass die betroffene Frau am allerbesten und im Allgemeinen auch am vernünftigsten entscheiden kann und sollte, ob sie eine begonnene Schwangerschaft weiterführt oder beendet, so wenig kann ich hier über meinen Glauben hinweggehen, dessen Gebot, nicht zu töten, nun mal eines der stärksten und wesentlichsten ist. Würde mich eine Betroffene um Rat fragen, ich könnte sicher nicht „ergebnisoffen“ antworten, auch wenn für mich ihr Recht auf die eigene Entscheidung nicht infrage steht. Das Thema arbeitet noch in mir, mal sehen, wie sich das weiter entwickelt.)

Abschließend kann ich das Buch allen empfehlen, die verstehen möchten, was Feminist_innen eigentlich heute umtreibt und das mit ihrem Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit und Realität abgleichen wollen. Ich zumindest weiß jetzt, dass ich mich als Feministen bezeichnen kann. Was ich nicht wirklich tue; es käme mir heuchlerisch vor, solange alles hauptsächlich in Kopf und Empfinden stattfindet und ich (gefühlt) eigentlich noch nichts in Taten umsetzen konnte.

Ausgrenzen durch Vorbilder

Im Moment häuft sich in meiner Leseliste ein Thema, das ich schon bei Lucie Höhlers Vortrag auf der re:publica spannend fand, nämlich das Bild und Selbst-Bild von Nerds, und wie es in die Gesellschaft hineinwirkt.

Im ersten Artikel, The Open Source Identity Crisis, geht es um Open-Source-Projekte, in denen Menschen meist in lockerer Organisation und ohne Bezahlung gemeinsam an Software arbeiten, die der Allgemeinheit zugute kommen soll. Die meisten dieser Communities pflegen ein oft unausgesprochenes Idealbild der Mitarbeit, und der Beitrag beschäftigt sich damit, wie dieses Bild aussieht, welche Gruppen von Menschen davon angesprochen und eingeschlossen werden (Überraschung! – weiß, männlich, heterosexuell, finanziell gesichert) und welche ausgegrenzt. Und er geht einen Schritt weiter mit der Frage, wie tief dieses Bild in das Selbstverständnis vieler Geeks dieses Schlages reicht und warum viele sogar vehement werden, wenn es gegen die Teilnahme von Frauen und anderen Gruppen von Menschen an diesen Projekten geht.

Hard skills are seen as masculine, and soft skills are seen as feminine. Software was originally a soft skill and predominantly a woman’s field, being seen as secretarial work. As men started to enter the space (from hardware, naturally) it became seen as a hard skill, somewhat at odds with its name. This practice of masculinising a field and pushing out the women is something we see repeated over and over again […]. Doing so allows men to safely perform their masculinity, whilst simultaneously forming a hierarchy-enhancing legitimizing narrative that keeps women out.

Der Text begründet, warum solche Haltungen auf Dauer schlecht für den Erfolg von Open-Source-Projekten sind, und schließt positiv mit einer Reihe von Anzeichen dafür, dass sich im Moment wohl eine Menge in Richtung größerer Diversität tut.

Ich selbst bin zwar Informatiker von der Ausbildung her, habe aber nie nennenswert Code produziert und auch nur in Firmen gearbeitet, die zur Old Economy zählen – auch wenn zu den Produkten immer auch eine Menge Software gehörte. Die im SZ-Artikel Tal der Weißen Männer beschriebenen Verhältnisse im Silicon Valley sind aber letztlich in einem deutschen Industriebetrieb nicht viel anders. Auch wenn die Produkte nicht ganz so abhängig von der Demografie der Endanwender sind: Weder könnte man sich eigentlich leisten, im globalen Wettbewerb auf frischen, kreativen Input aus allen möglichen Schichten und Biografien zu verzichten, noch ist man bezüglich Diversität irgendwie weiter.

Wer angetreten ist, die Welt zu verändern, sollte dafür nicht nur einen kleinen elitären Kreis der Menschheit heranziehen. Die Kultur einer Industrie ist nicht von den Produkten zu trennen, die sie hervorbringt. Im Grunde entwickelt in Kalifornien eine weiße, junge, männliche Clique Produkte für weiße, junge, männliche Konsumenten.

Bezüglich geographischer Herkunft halte ich meine Firma sogar für einigermaßen vielfältig (bei einem globalen Unternehmen bis zu einem gewissen Grad auch zwingend), ansonsten ist aber gerade der Frauenanteil immer noch aus dem vorigen Jahrhundert und die soziale Herkunft sogar länderübergreifend völlig homogen. Vom minimalen Anteil z. B. von behinderten KollegInnen, Transgender, Nicht-ChristInnen ganz zu schweigen. Bezeichnend für die Verhältnisse in meiner Firma war vor wenigen Jahren eine große Veranstaltung bei der Zusammenlegung unserer Geschäftseinheit mit einer anderen, bei der sich das neue Management den Mitarbeitern präsentierte. Der neue Geschäftsführer sang bei der Gelegenheit Loblieder auf ihre Diversität, nur weil die Manager aus verschiedensten Ländern wie Finnland, Südafrika usw. kamen. Dass auf der Bühne ausschließlich weiße, bürgerliche, nicht behinderte Familienväter zwischen Mitte 40 und Mitte 50 standen, fiel ihm nicht mal auf. Ich glaube, das kann man Privilegienblindheit nennen.

Während also Frauen inzwischen durchaus hier und da in unseren technischen Abteilungen – und nicht nur ganz traditionell bei Marketing, Accounting, Personalabteilung und als Teamassistentinnen – zu finden sind, so kann man schon die Teamleiterinnen unter ihnen an einer Hand abzählen, ganz zu schweigen von höheren Leitungsfunktionen, wo es gerade mal eine einzige Frau ins oberste Management geschafft hat. Neben der Leiterin Human Resources, okay. Und ich habe miterlebt, wie Kolleginnen (kleines i) selbst da, wo sie reichhaltige, dringend benötigte berufliche Erfahrung aus Kundensicht mitbringen, bei gleicher Position gerne mal ein oder sogar zwei Tarifstufen weniger verdienen als wir Männer, dabei im Schnitt deutlich weniger prestigeträchtige, öfter wechselnde Aufgaben bekommen und insgesamt weniger gefördert werden.

Sagte ich schon mal, dass ich für flächendeckende Frauenquoten bin? Wenn man selbst sein ganzes Berufsleben vom unverdienten Privileg profitiert hat, ein Mann zu sein, wie kann man da eine kleine Korrektur des Systems zugunsten von Frauen ungerecht finden? Das ist mir schleierhaft.

Zurück zum Artikel. Auch er geht wie der erste oben der Frage nach, wie sich solche homogenen Firmenkulturen bilden – auch noch ausgerechnet in der als modern und superkreativ geltenden Startup-IT-Branche, und wie auch hier wieder Idealbilder von Unternehmensgründern und Mitarbeitern dafür sorgen, dass diese Kultur bestehen bleibt und sich mit der Zeit fortpflanzt. Wieviel solche Appelle an die gesellschaftliche Verantwortung der Firmen wie der am Schluss des Beitrags bislang gebracht haben, sehen wir, wenn wir z. B. die „Erfolge“ von Selbstverpflichtungen der deutschen Unternehmen ansehen. Daher glaube ich, dass letztlich nur gesetzliche Vorschriften oder existenzieller wirtschaftlicher Druck in der Lage sein werden, etablierte Firmen dazu zu bringen, Diversität als lebenswichtigen Teil ihrer Kultur zu begreifen.

(Is)Land und Leute

Ein paar unzusammenhängende Beobachtungen, ganz aus der oberflächlichen Perspektive des ausländischen Touristen, der sich nach zwei kurzen Urlauben etwas zusammenreimt und rumallgemeinert.

  • Die Leute lieben es, ihre Fensterbänke zu verzieren. Ob mit Vasen, Skulpturen, Kaffeekannen oder den Buchstaben L-O-V-E (Ikea?), fast immer wird der Platz für Dekoratives genutzt. Hilfreich ist dabei sicher, dass sich isländische Fenster im Allgemeinen nicht öffnen lassen; sie haben allerhöchstens ein schmales Seitenfenster oder Oberlicht, das sich mittels hakeliger Stängchen auf Kipp stellen lässt. (Und das bei diesem feuchtkalten Atlantikklima – wenn das die stoßlüftfanatischen Vermieter unserer früheren Wohnung wüssten!) Wobei man selten den Eindruck hat – trotz der guten Sichtbarkeit von außen – die Objekte stünden dort, um irgendjemand anderem als den Bewohnern selbst zu gefallen. Auch die Häuser selbst werden gerne mit Symbolen individualisiert, oder Namen und Baujahr, oder gleich ganzen Gemälden.
  • Die Menschen, die wir getroffen haben, waren eigentlich immer freundlich und offen. Nicht überschwänglich oder jovial, immer eher etwas zurückhaltend, aber oft bekommt man ein Lächeln, später auch schon mal einen trockenen Scherz, und irgendwie wirkten die meisten IsländerInnen im Grunde, altes Wort, heiter. Sogar noch, wenn sie sich aufregen und rohrspatzenhaft schimpfen wie der Busfahrer über die bekloppten Touristen, die nicht einmal Parkplatzpfeile verstehen.
  • Diese insgesamt positive Grundhaltung schlägt offenbar auch im Umgang mit gesellschaftlichen Konventionen durch. Man hat den Eindruck, in einem liberalen Land zu sein, in dem unterschiedliche Lebensentwürfe, sexuelle Orientierungen und so weiter ihren akzeptierten Platz haben. Natürlich gibt es wie überall auch Ärger, Vetternwirtschaft, Missgunst, wie wir zum Beispiel in Gesprächen mit einer vor Jahrzehnten eingewanderten Deutschen so mitbekamen. Aber vielleicht ist es gerade die Winzigkeit dieser Gesellschaft (ganz Island hat ungefähr so viele Einwohner wie Wuppertal), in der jeder jeden kennt, man sich nicht einfach so aus dem Weg gehen kann, stark aufeinander angewiesen ist, und man andererseits aber auch von Kind auf lernt, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen, die dafür sorgt, dass Menschen hier gelernt haben zu leben und andere leben zu lassen?
  • Schuhe aus! Ob in Privatwohnungen, Schwimmbad oder sogar großen Schulen, hinter der Eingangstür stehen grundsätzlich Regale, in die man als erstes nach dem Reinkommen seine Schuhe stellt. Die Beschaffenheit des Wetters und der Landschaft könnten eventuell zu dieser Tradition beigetragen haben.
  • Jeder Ort hat ein öffentlichen Schwimmbad, das mindestens aus ein bis zwei Außenbecken mit heißem Wasser besteht, den Hot Pots. Und „Ort“ heißt in Island oft genug nicht mehr ein paar hundert Einwohner. Diese Hot Pots sind eine Institution, kosten – verglichen mit deutschen Schwimmbädern – fast nichts und sind der Treffpunkt schlechthin. In Italien trifft man sich abends auf der Piazza um zu ratschen, zu flirten oder die Kinder spielen zu lassen, hier sind es die Hot Pots. Die übrigens umso schöner werden, je kälter und ungemütlicher das Wetter ist. Strategischer Vorteil Islands ist dabei natürlich die unerschöpfliche, billige Energie aus der Erde.
  • Um ins Schwimmbad zu dürfen, muss man übrigens grundsätzlich nackt duschen und sich – auf lustigen schematischen Tafeln mit roten Punkten markiert – an allen Problemzonen einseifen. Was angesichts der keimfreundlichen Badetemperaturen sicher eine gute Idee ist.
  • Island wird offenbar, was Cafés, Geschäfte, Supermärkte, Servicebüros und sonstige Stellen mit Kundenkontakt angeht, im Wesentlichen von 20-25jährigen Frauen betrieben. Die im Übrigen sehr ähnlich aussehen mit ihren meist langen, glatten, blonden Haaren, die meist zu Dutts und so (ich kenne mich da nicht so aus) hochgesteckt sind.
  • Über isländisches Brot muss man nicht viele Worte verlieren, außer, dass es – egal, wie knusprig und braun und voluminös es aussehen mag – immer die Dichte von Toastbrot hat. Dünnem Toastbrot. Zur Verteidigung lässt sich sicher sagen, dass auf Island kein Getreide wächst und es schon allein daher keine Brottradition wie bei uns geben kann.
  • Der Isländer an sich scheint gerne zu grillen. Zumindest scheint ein Gasgrill auf der Veranda oder dem Balkon zur Grundausstattung zu gehören.
  • In vielen Vorgärten stehen große Steine. Vor manchen brennt auch ein Windlicht. Ich habe keine Ahnung, vermute aber, dass es etwas mit in den Steinen wohnenden Elfen zu tun haben könnte. Die IsländerInnen nehmen diese Troll-Elfen-Sache irritierend ernst.
  • Eine hervorragende Einrichtung, vermutlich auch dem Wetter geschuldet, sind die obligatorischen Suppenkübel in vielen Cafés. Man bekommt dort für wenig Geld eine schmackhafte, heiße Tagessuppe und Brot, und wie es aussieht ist auch der Nachschlag schon drin. Überhaupt ist Essen in Island überhaupt nicht so teuer, wie manche Stimmen meinen lassen. Natürlich zahlt man für manches Obst und Gemüse im Supermarkt höhere Preise, aber insgesamt ist das Preisniveau sowohl im Supermarkt als auch in der Gastronomie absolut angemessen für eine Insel, auf der so wenig wächst und außer Fisch, Lamm, Rind und etwas Gemüse quasi alles importiert werden muss.
  • Man hat hier irgendeine Obsession mit kurzen Rasen. Alle irgendwie zu Häusern und öffentlichen Plätzen gehörenden Grasflächen sehen aus wie auf dem Golfplatz, und ständig mäht irgendwer irgendwo. (Und sei es ein Trupp jugendlicher Schüler auf Gemeinschaftsdienst.)
  • Die Versorgung mit Breitband-Internet und Mobilfunk ist super, ganz besonders für ein derart spärlichst besiedeltes Land, so dass man sich fragt, was die Anbieterfirmen in Deutschland eigentlich so machen, beruflich.
  • Island ist wohl eines der wenigen Länder, in denen exzessive Nutzung von Outdoorkleidung bis hin zu SUVs total angemessen sind. Wobei jetzt im Sommer die Outdoorkleidung natürlich eher den Touristen verrät. Bei 9 Grad, Wind und Nieselregen sieht man einheimische Kinder fröhlich in T-Shirt und kurzer Hose draußen spielen, und die Erwachsenen sind kaum wärmer angezogen. Von nackten Füßen in wanderuntauglichen Schuhen ganz abgesehen. Auch vierradgetriebene, jeepartige (meist japanisch/koreanische) Wagen sind angesichts vieler Schotterstraßen und widriger Schneeverhältnisse im Winter sehr sinnvoll. Sinnvoller jedenfalls als in mitteleuropäischen Großstädten.

Mich würde sehr interessieren, welche Beobachtungen ihr so gemacht habt.