Warum ein #aufschrei nicht reicht

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie vor anderthalb Jahren an einem späten Abend in meiner Twitter-Timeline @vonhorst und @marthadear die Steinchen ins Rollen brachten, die unter dem Hashtag #aufschrei eine Lawine von Tweets auslösen sollten, mit denen tausende Frauen ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus teilten, von „Witzen“, Belästigungen in der Öffentlichkeit und Diskrimierung bis hin zu körperlichen Übergriffen und blanker Gewalt. Es gab in meiner ganzen Online-Zeit kein Erlebnis, was mich vergleichbar beschäftigt und eine solche emotionale Wucht hatte.

Anderthalb Jahre später hat jetzt @marthadear / Anne Wizorek das Buch „Weil ein #Aufschrei nicht reicht – für einen Feminismus von heute“ geschrieben. Darin zeichnet sie zwar auch die Entstehung der Twitterkampagne samt anschließender Reaktion in den Medien nach (die nach wie vor so unbeirrt wie falsch schreiben, #aufschrei wäre durch den zeitgleichen Skandal um Reiner Brüderles verbale Ausfälle gegenüber einer Journalistin entstanden *seufz*), im Kern geht es aber darum, was Feminismus heute bedeutet und warum und an welchen Stellen er immer noch besonders gebraucht wird. Inwiefern verbreitete Ansichten, wir würden in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben, bei allen Errungenschaften immer noch Mythen sind. Wie stark unsere Ansichten über Körper, Fähigkeiten, Berufe, angemessene Verhaltensweisen immer noch sexistisch geprägt sind. Es geht um Frauenquoten, sexualisierte Gewalt, Schwangerschaft, die Pille danach, Zerrbilder des Feminismus als Männerhass, Online-Einschüchterungstaktiken und so weiter.

Nach diesem Panorama, was alles im Argen liegt, wirbt @marthadear in einem zweiten Teil für Mitstreiter_innen, um die bestehenden Verhältnisse zu verbessern. Und hier wird in meinen Augen die größte Stärke des Buchs deutlich: Es grenzt nicht aus, sondern schließt ein, auf allen Ebenen. Es werden keine Diskriminierungen gegeneinander ausgespielt, sondern im Gegenteil immer wieder aufgezeigt, wie sehr sich Sexismus, Transphobie, Homophobie, Ableismus und Rassismus in ihren Auswirkungen ähneln und überlagern – und daher auch nur solidarisch angegangen werden können. Und es spricht explizit die Männer an, macht klar, warum Feminismus vor allem auch ihr, bzw. unser Ding ist. Nicht nur, weil Veränderungen mit Hilfe männlicher Privilegien deutlich schneller voran kommen können, nicht nur, weil es verdammt nochmal selbstverständlich sein sollte, für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und gleichberechtigte Teilhabe aller einzutreten, sondern auch, weil wir selbst auch ganz direkt davon profitieren. Denn Männer werden ja nicht weniger in Rollen und Verhaltensweisen gezwängt, die sie verbiegen und ihre Entwicklung z. B. in Familie oder Beruf einengen. (Ich selbst habe bis Mitte 30 gebraucht, mich ganz als Mann zu verstehen und in meiner Haut wohlzufühlen, weil ich immer wieder gespiegelt bekomme, Männer hätten anders zu sein als ich.) Dass gerade die Tabuisierung männlicher Opfer von Gewalt, ein Thema das von sogenannten „Männerrechtlern“ reflexhaft bei jeder Thematisierung von Gewalt gegen Frauen vorgebracht wird, von den gleichen sexistischen Strukturen hervorgerufen wird, ist dabei eine kleine Ironie am Rande.

Insgesamt war ich überrascht, wie sehr ich mit allen Themen im Buch schon vertraut war. Hier wirkte wohl das, was @marthadear ebenfalls propagiert, nämlich die Effizienz, sich online mit Gleichgesinnten zu verbinden und voneinander zu lernen. Ich folge inzwischen vielleicht nur gut 20 Leuten und Gemeinschaftsaccounts, die sich vor allem mit diesen Themen auseinandersetzen, aber viele Links verteilen; alleine darüber habe ich schon eine Menge Denkfutter mitbekommen (und bekomme ich nach wie vor jeden Tag), wovon das Verständnis dessen, was Privilegiertheit bedeutet, sicher bislang das Wichtigste war. Und nicht zuletzt sprechen mir viele der Anliegen einfach aus der Seele und fielen daher von vorneherein auf fruchtbaren Boden.

(Kleiner Einschub. Womit ich noch am ehesten hadere, ist die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch. So sehr ich davon überzeugt bin, dass die betroffene Frau am allerbesten und im Allgemeinen auch am vernünftigsten entscheiden kann und sollte, ob sie eine begonnene Schwangerschaft weiterführt oder beendet, so wenig kann ich hier über meinen Glauben hinweggehen, dessen Gebot, nicht zu töten, nun mal eines der stärksten und wesentlichsten ist. Würde mich eine Betroffene um Rat fragen, ich könnte sicher nicht „ergebnisoffen“ antworten, auch wenn für mich ihr Recht auf die eigene Entscheidung nicht infrage steht. Das Thema arbeitet noch in mir, mal sehen, wie sich das weiter entwickelt.)

Abschließend kann ich das Buch allen empfehlen, die verstehen möchten, was Feminist_innen eigentlich heute umtreibt und das mit ihrem Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit und Realität abgleichen wollen. Ich zumindest weiß jetzt, dass ich mich als Feministen bezeichnen kann. Was ich nicht wirklich tue; es käme mir heuchlerisch vor, solange alles hauptsächlich in Kopf und Empfinden stattfindet und ich (gefühlt) eigentlich noch nichts in Taten umsetzen konnte.