Ausgrenzen durch Vorbilder

Im Moment häuft sich in meiner Leseliste ein Thema, das ich schon bei Lucie Höhlers Vortrag auf der re:publica spannend fand, nämlich das Bild und Selbst-Bild von Nerds, und wie es in die Gesellschaft hineinwirkt.

Im ersten Artikel, The Open Source Identity Crisis, geht es um Open-Source-Projekte, in denen Menschen meist in lockerer Organisation und ohne Bezahlung gemeinsam an Software arbeiten, die der Allgemeinheit zugute kommen soll. Die meisten dieser Communities pflegen ein oft unausgesprochenes Idealbild der Mitarbeit, und der Beitrag beschäftigt sich damit, wie dieses Bild aussieht, welche Gruppen von Menschen davon angesprochen und eingeschlossen werden (Überraschung! – weiß, männlich, heterosexuell, finanziell gesichert) und welche ausgegrenzt. Und er geht einen Schritt weiter mit der Frage, wie tief dieses Bild in das Selbstverständnis vieler Geeks dieses Schlages reicht und warum viele sogar vehement werden, wenn es gegen die Teilnahme von Frauen und anderen Gruppen von Menschen an diesen Projekten geht.

Hard skills are seen as masculine, and soft skills are seen as feminine. Software was originally a soft skill and predominantly a woman’s field, being seen as secretarial work. As men started to enter the space (from hardware, naturally) it became seen as a hard skill, somewhat at odds with its name. This practice of masculinising a field and pushing out the women is something we see repeated over and over again […]. Doing so allows men to safely perform their masculinity, whilst simultaneously forming a hierarchy-enhancing legitimizing narrative that keeps women out.

Der Text begründet, warum solche Haltungen auf Dauer schlecht für den Erfolg von Open-Source-Projekten sind, und schließt positiv mit einer Reihe von Anzeichen dafür, dass sich im Moment wohl eine Menge in Richtung größerer Diversität tut.

Ich selbst bin zwar Informatiker von der Ausbildung her, habe aber nie nennenswert Code produziert und auch nur in Firmen gearbeitet, die zur Old Economy zählen – auch wenn zu den Produkten immer auch eine Menge Software gehörte. Die im SZ-Artikel Tal der Weißen Männer beschriebenen Verhältnisse im Silicon Valley sind aber letztlich in einem deutschen Industriebetrieb nicht viel anders. Auch wenn die Produkte nicht ganz so abhängig von der Demografie der Endanwender sind: Weder könnte man sich eigentlich leisten, im globalen Wettbewerb auf frischen, kreativen Input aus allen möglichen Schichten und Biografien zu verzichten, noch ist man bezüglich Diversität irgendwie weiter.

Wer angetreten ist, die Welt zu verändern, sollte dafür nicht nur einen kleinen elitären Kreis der Menschheit heranziehen. Die Kultur einer Industrie ist nicht von den Produkten zu trennen, die sie hervorbringt. Im Grunde entwickelt in Kalifornien eine weiße, junge, männliche Clique Produkte für weiße, junge, männliche Konsumenten.

Bezüglich geographischer Herkunft halte ich meine Firma sogar für einigermaßen vielfältig (bei einem globalen Unternehmen bis zu einem gewissen Grad auch zwingend), ansonsten ist aber gerade der Frauenanteil immer noch aus dem vorigen Jahrhundert und die soziale Herkunft sogar länderübergreifend völlig homogen. Vom minimalen Anteil z. B. von behinderten KollegInnen, Transgender, Nicht-ChristInnen ganz zu schweigen. Bezeichnend für die Verhältnisse in meiner Firma war vor wenigen Jahren eine große Veranstaltung bei der Zusammenlegung unserer Geschäftseinheit mit einer anderen, bei der sich das neue Management den Mitarbeitern präsentierte. Der neue Geschäftsführer sang bei der Gelegenheit Loblieder auf ihre Diversität, nur weil die Manager aus verschiedensten Ländern wie Finnland, Südafrika usw. kamen. Dass auf der Bühne ausschließlich weiße, bürgerliche, nicht behinderte Familienväter zwischen Mitte 40 und Mitte 50 standen, fiel ihm nicht mal auf. Ich glaube, das kann man Privilegienblindheit nennen.

Während also Frauen inzwischen durchaus hier und da in unseren technischen Abteilungen – und nicht nur ganz traditionell bei Marketing, Accounting, Personalabteilung und als Teamassistentinnen – zu finden sind, so kann man schon die Teamleiterinnen unter ihnen an einer Hand abzählen, ganz zu schweigen von höheren Leitungsfunktionen, wo es gerade mal eine einzige Frau ins oberste Management geschafft hat. Neben der Leiterin Human Resources, okay. Und ich habe miterlebt, wie Kolleginnen (kleines i) selbst da, wo sie reichhaltige, dringend benötigte berufliche Erfahrung aus Kundensicht mitbringen, bei gleicher Position gerne mal ein oder sogar zwei Tarifstufen weniger verdienen als wir Männer, dabei im Schnitt deutlich weniger prestigeträchtige, öfter wechselnde Aufgaben bekommen und insgesamt weniger gefördert werden.

Sagte ich schon mal, dass ich für flächendeckende Frauenquoten bin? Wenn man selbst sein ganzes Berufsleben vom unverdienten Privileg profitiert hat, ein Mann zu sein, wie kann man da eine kleine Korrektur des Systems zugunsten von Frauen ungerecht finden? Das ist mir schleierhaft.

Zurück zum Artikel. Auch er geht wie der erste oben der Frage nach, wie sich solche homogenen Firmenkulturen bilden – auch noch ausgerechnet in der als modern und superkreativ geltenden Startup-IT-Branche, und wie auch hier wieder Idealbilder von Unternehmensgründern und Mitarbeitern dafür sorgen, dass diese Kultur bestehen bleibt und sich mit der Zeit fortpflanzt. Wieviel solche Appelle an die gesellschaftliche Verantwortung der Firmen wie der am Schluss des Beitrags bislang gebracht haben, sehen wir, wenn wir z. B. die „Erfolge“ von Selbstverpflichtungen der deutschen Unternehmen ansehen. Daher glaube ich, dass letztlich nur gesetzliche Vorschriften oder existenzieller wirtschaftlicher Druck in der Lage sein werden, etablierte Firmen dazu zu bringen, Diversität als lebenswichtigen Teil ihrer Kultur zu begreifen.