Auszeit, die ersten zwei Wochen

Die Idee entstand vor zwei Jahren. Immer schon, wenn wir einen schönen Urlaub nach den üblichen zwei Wochen beenden mussten, blieb der Gedanke: Jetzt hatte man einmal durchgeatmet und eine Gegend gerade einmal schnappschussartig kennengelernt, schon ging es zurück in die Arbeit. Aber wann hätte man je mehr Zeit – im Ruhestand mit Ende sechzig oder älter? Wer weiß, ob man dann noch fit durch entlegene Landschaften spazieren kann (oder überhaupt noch lebt).

Meine Firma bietet sehr unbürokratisch die Möglichkeit, Sabbaticals zu nehmen; zwischen einem und zwölf Monaten, an einem Stück oder in Scheiben, man muss nur eine Gesamtlaufzeit festlegen, über die das Gehalt entsprechend gesenkt wird. Wenn man es selbst finanziell hinbekommt, bleibt als einzige Hürde die Zustimmung der unmittelbaren Führungskraft. Als wir uns auf unserem Trip nach Verona mit meinem sehr geschätzten, damaligen Teamleiter und seiner Familie zum Essen trafen (sie machten auch gerade in der Gegend Urlaub), fragte ich ihn, was er davon hielte, wenn ich drei Monate Auszeit nähme, und er war sofort einverstanden. Eine Kollegin aus seinem Team hatte es vor einigen Jahren auch schon mal genutzt, um den Jakobsweg zu gehen, und es hatte ihr ausgesprochen gut getan. Bei der Möwe war es etwas komplizierter, da kleine Arbeitgeber selten solche vorgefertigten Abläufe mit den nötigen Versicherungen usw. haben, aber auch die Chefin der Möwe war einverstanden und es fand sich eine Lösung.

Anderthalb Jahre später ist es nun soweit, von Mai bis Ende Juli sind wir freigestellt und tatsächlich seit dem ersten Mai unterwegs. Die ersten fünf Wochen verbringen wir zurück auf den Orkneyinseln, anschließend drei Wochen auf der Insel Lewis, und nach ein paar Tagen zurück zuhause geht es noch einmal für zwei Wochen in die Bretagne, um nach viel nördlicher Abgeschiedenheit noch etwas Badeurlaub und sommerlichen Trubel mitzunehmen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das alles geht; ich weiß, das ist ein großes Privileg.

Und meine Güte, habe ich die Auszeit nötig. Hier haben sich normale Urlaubsreife, Jahre der Pandemie und Anspannung, ein extrem anstrengender Job in den ersten beiden Jahren, der Tod meiner Mutter und ein zunehmend unguter Lebensstil und Tagesrhythmus zu einem Level an Erschöpfung addiert, der es mir zunehmend schwerer machte, auch nur Bücher zu lesen, längere persönliche Gespräche zu führen oder gar etwas ins Blog zu schreiben. Ein chronisches Nebenmirstehen und Nichtmehrkonzentrierenkönnen.

Die erste Woche verbrachten wir dann praktisch auch nur mit schlafen, essen und rausschauen, bis die erste grobe Erschöpfung überwunden war. Bei tagelangem, kaltem, heftigem Dauerwind und starker Bewölkung gab es draußen ohnehin nicht viel zu unternehmen, und die gemütliche Ferienwohnung mit ständigem Blick auf Meer und Berge bzw. das, was Wolken und Nebel davon zeigten, bot alles, was man brauchte.

Seit dieser Woche ist das Wetter ruhiger, selten scheint sogar etwas Sonne durch die Wolken, es regnet tagsüber kaum und wir unternehmen erste Ausflüge: zum Ring of Brodgar (ein neolithischer Felskreis, größer als Stonehenge), Marwick Head (Vogelklippen), eine geführte Tour durch die oberen Etagen der St.-Magnus-Kathedrale, die Klippen von Yesnaby, größere Spazierrunden ums Haus, oder gestern einen ganzen Tag zu Fuß auf der Insel Shapinsay.

Bislang bin ich 60 Vogelarten begegnet, darunter so tollen wie dem Eistaucher, der Zwergseeschwalbe oder hunderten von balzrufenden Eisenten auf einem kleinen See. Auch andere Tiere habe ich schon gesehen, natürlich Schafe und Rinder, die zur Zeit mit vielen kleinen und kleinsten Jungtieren auf den Weiden stehen, aber auch wilde wie Kaninchen, Robben und sogar einen Otter, der ganz in der Nähe unserer Wohnung den Strand entlanglief. Dazu ist die Luft erfüllt von melancholischem Brachvogelblubbern, aufgeregtem Austernfischertrillern, Starenpfeifen und Feldlerchengezwitscher. Traumhaft.

Fürs erste sind wir angekommen.

Umzug

Nein, keiner, bei dem man Kisten packen muss und Möbel transportiert, sondern: online. Bei Facebook war ich nie, von Whatsapp bin ich zu Signal gewechselt und Instagram habe ich vor einiger Zeit ebenfalls aufgegeben. Von den großen, kommerziellen Plattformen blieb also noch Twitter. Okay, und Youtube, wo ich aber nur konsumiere.

Im März 2008 hatte ich mich auf Twitter angemeldet, die aus heutiger Sicht kuschelig und privat anmutenden Zeiten der ersten Jahre miterlebt, dann die spannende Zeit der zunehmenden Politisierung z. B. durch Black Lives Matter und feministische Diskurse und schließlich die vergangenen Jahre, in denen die Plattform durch Hasskampagnen gegen Frauen und Marginalisierte, zunehmend krassere Aufregungswellen und ätzendere Umgangsformen für mich immer schwerer erträglich wurde. Selbst mit per Trick komplett ausgeschalteten Retweets in der Timeline fiel es mir nicht mehr leicht, so zu tun, als würde ich mich so wie früher nur mit den geschätzten Mutuals austauschen. Die ehemals gemütliche WG geriet zu einem Treffen auf dem Bahnhofsplatz, wo man versucht, über Kochrezepte zu plaudern, während drumherum Leute irgendetwas in Megaphone brüllen oder einen beschimpfen. Die Katapultwirkung von Twitters Algorithmen, mit der ein für kleines Umfeld gedachter Tweet aus meinem Kontext gerissen binnen einer Stunde in tausenden Timelines landen kann, machte mir ein dauermulmiges Gefühl. Und selbst wenn man die eigene Timeline sorgsam kuriert hat inklusive allen möglichen blockierten und stummgeschalteten Wörtern und Namen, bekommt man immer noch jeden Furz und jede Provokation von Springer-Journalisten, AfDler*innen und anderen Populisten wahlweise in gerechter Empörung oder hübschem Spott serviert, und sei es als Drüberkommentar eines Screenshots eines Drüberkommentars eines Screenshots.

Insofern bin ich froh, dass anlässlich Leon Skums Twitterkauf zumindest in der mir wichtigen Umgebung endlich die kritische Masse zusammengekommen ist, um in eine nicht-profitorientierte und weniger giftige Umgebung zu wechseln. Ich kann die Frustration aller verstehen, die finden, man dürfe sich von rechten Populisten und Hassschürern nicht vertreiben lassen. Auch die Frustration derer, die jetzt vor der Frage stehen, ob sie auf Twitter bleiben wollen, was für sie vielleicht gut funktioniert hat, oder auf eine zunächst einmal merkwürdige und womöglich auch in irgendwelchen Beziehungen nicht unproblematische Umgebung wechseln, um nicht wertvolle Kontakte zu verlieren.

Aber ich muss für mich und mein psychisches Wohlbefinden entscheiden, und zumindest für die eigene, aktive Teilnahme bin ich lieber auf Mastodon zwischen vielen anderen sehr geschätzten Menschen. Twitter werde ich bis auf weiteres nicht ganz verlassen, alleine schon wegen der internationalen Accounts, denen ich folge (meist einseitig) und die nur dort zu finden sind, inklusive vieler, deren Vogel- und Natur-Content für mich immer schon zum schöneren Teil des Dortseins gehört haben.

Wird es dort wieder so gemütlich wie Twitter in den Grenzen von 2010? Nein. Die Welt ist eine andere, die Medien haben sich gewandelt, wir selbst sind Andere geworden, viele Mitglieder der damaligen virtuellen WG sind nicht mehr dort, nicht wenige von uns sogar für immer verloren gegangen. Aber etwas von diesem Geist beleben, weniger Empörungswellen verstärken, mehr Persönliches teilen, eine Gegenwelt zu den vereinzelnden, entsolidarisierenden Plattformen bauen, das wäre schön. Und zumindest bislang fühlt es sich so an.

(Ich bin übrigens nach einem kleinen Umzug innerhalb des Mastodon-Netzwerks jetzt unter der Adresse @giardino@fnordon.de zu finden. Die Instanz wird von Thomas gehostet, der auf seinen Servern seit Jahren auch schon dieses Weblog betreut und in dessen Händen ich meine Online-Präsenzen daher sehr gut aufgehoben weiß.)

Birding-Tour in Ungarn

Zu meinem Geburtstag im Frühjahr hatte sich die Möwe überlegt, mir – beziehungsweise uns – für den Herbst eine Vogelbeobachtungstour zu schenken. Eine 5tägige Reise in Ungarn eines auf Birding spezialisierten deutschen Anbieters bot sich an: etwas südlicher, also vermutlich noch mit recht angenehmen Temperaturen und in einem Land, dass wir beide noch nicht kannten (meine zwei kurzen Aufenthalte in der Hauptstadt vor Jahrzehnten zählen eher nicht). Die Tour begann und endete in Budapest, was man von uns aus vergleichsweise direkt in 8 Stunden mit dem Zug erreicht, ein weiterer Pluspunkt. Von dort ging es zunächst in die hügelige Landschaft rund um das Weingebiet von Tokaj im Nordosten und dann weiter südlich für mehrere Tage in die Puszta und den Nationalpark Hortobagy.

Zusammen mit zehn anderen Teilnehmer*innen waren wir praktisch jeden Tag von acht bis sechs mit dem Bus unterwegs, wanderten, beobachteten, fotografierten, kehrten zwischendurch irgendwo zum Mittagessen ein, und dann weiter mit geschulterten Spektiven als weithin sichtbare Gruppe von Freaks zum nächsten Feldrand, Wald oder Teichgebiet. Es klingt schwierig, aber tatsächlich hatten wir nie irgendeinen Zeitdruck und verbrachten die meiste Zeit in der Natur. Das Wetter war frühherbstlich schön und die Gruppe blieb sowohl im Bus als auch auf den Wegen oft schweigend, was gut tat, genauso wie die Abwesenheit vom Zwang, selbst herumfahren und Tagesabläufe, Orte oder Essen planen zu müssen. Ein Nachteil solcher vorgefertigten Reisen ist natürlich, dass die Verpflegung nicht immer das sein kann, was man sich selbst bestellt oder gar gekocht hätte, aber das Essen war dennoch stets anständig, halt nur immer zuviel und sehr deftig. Jedenfalls waren wir angenehm überrascht, wie problemlos eine so fremdbestimmte und mit fremden Leuten verbrachte Reise, und wie verbindend ein gemeinsames Spezialinteresse für unterschiedliche Charaktere unter dem Strich sein kann.

Nicht zuletzt hatten wir auch einen sympathischen, sehr erfahrenen Guide, der uns auf Deutsch seine Heimat und deren Vögel näher brachte (bzw. uns den Vögeln) und genau wusste, wo welche Arten zu finden waren, auch wenn sich zu seiner und unserer Enttäuschung weder Uhu noch Habichtskauz blicken ließen. Aber es kamen am Ende dennoch 11 neue Einträge auf meine Lebens-Artenliste und es blieben viele erinnerungswürdige Momente: Braunkehlchen, Grauammern und Raubwürger in den herbstlichen Weinbergen, ein schläfriger Waldkauz in einem Schornstein, zwei Dutzend Waldohreulen in ihren Schlafbäumen auf einem dörflichen Schulhof, See- und Kaiseradler, die morgens in Gruppen auf kahlen Bäumen sitzen und später mit einem einfachen Überflug mal eben tausend Gänse und Kiebitze am See in Aufruhr bringen, der Sound und Anblick abertausender Kraniche in der Abenddämmerung, der prächtige, rötliche Adlerbussard, die vollkommen unwirkliche, laut- und endlose Steppe der Puszta, ein Schwarzstorch, der soeben einem Adlerangriff entkommen direkt über uns hinwegfliegt, der Steinkauz, der mich aus einer verfallenen Hütte skeptisch beäugt… Wunderbar.

Nach unserer Rückkehr nach Budapest nutzten wir die 2-3 Stunden bis zum Sonnenuntergang noch für eine Mikro-Sightseeing-Runde zur Fischerbastei, eine Straßenbahnfahrt am Donauufer und ein kleines Abendessen in einem Wok-Imbiss (nach der Woche hatten wir unerklärlicherweise Lust auf Fleischloses mit viel Gemüse), und den anschließenden Samstag verbrachten wir wieder im Zug, dessen Verbindung natürlich auch weit entfernt von Norddeutschland nicht von den Folgen der sabotagebedingten Verspätungen verschont blieb.

Das war es für dieses Jahr mit Wegfahren. Die nächste Reise wird schon unser Sabbatical im kommenden Mai sein. Ich freu mich drauf.

Eisvogelfight

In den vergangenen Tagen wurde an meinem Teich in der Nähe mehrfach ein Tüpfelsumpfhuhn gemeldet, teils sogar mit Foto. Ich habe noch nie eines gesehen, denn Tüpfelsumpfhühner sind ebenso selten wie scheu, und als ich heute sehr früh wach wurde, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um selbst mal nachzuschauen.

Am Teich waren die üblichen Bläss- und Teichhühner unterwegs, auch ein Kampfläufer, vom Tüpfelsumpfhuhn natürlich keine Spur. Dafür zwei Eisvögel, von denen einer ständig laut rief. Nicht nur das, er flog immer wieder den anderen an, der auf einem der Pfähle hockte, drehte eine Runde, saß kurz selbst auf einem anderen Pfahl, und dann von vorne. Kurz dachte ich an einen Elternvogel, der sein Junges mit Futter versorgt, doch er fing ja selber nichts. Nein, das schien irgendein Streit zu sein.

Irgendwann blieb es nicht bei Scheinangriffen. Beim Anflug verhakten sich ihre Schnäbel und sie stürzten gemeinsam in den Teich, wo sie 20-30 Sekunden lang verbissen kämpften und sich gegenseitig immer wieder unter die Wasseroberfläche drückten, bis sich einer schließlich befreite und davonflog, der andere hinterher. So etwas habe ich noch nie gesehen. Und auch wenn ich für gute Aufnahmen viel zu weit weg war, das Licht bescheiden und die Ergebnisse bei ISO 8000 heftig verrauscht, so konnte ich doch ein wenig davon einfangen. Was für ein Schauspiel.

Nach einer weiteren halben Stunde vergeblicher Fernglassuche nach dem Sumpfhuhn fuhr ich weiter, um ein paar Brötchen fürs Frühstück zu kaufen. Auf dem Rückweg standen rund um den Teich schon mehrere Autos mit Kennzeichen aus der Gegend, und Männer stellten Stative mit großen Teleobjektiven auf. Vielleicht hatten sie mehr Glück mit dem Tüpfelsumpfhuhn, aber das Beste hatten sie definitiv verpasst.