Seit wir vor vier Jahren einen Tagesausflug auf North Ronaldsay gemacht hatten, wollten wir noch einmal hierher. Wenn Orkney Mainland an sich ruhig und abgeschieden ist, dann ist die kleine und nordöstlichste der Inseln die Abgeschiedenheit im Quadrat: sieben Quadratkilometer groß und nur circa 60 Einwohner*innen, die im Wesentlichen von Rinder- und Schafzucht leben. Zwei- bis dreimal am Tag gibt es einen Flug mit einem Kleinflugzeug für maximal 8 Passagiere nach Kirkwall, ansonsten kommt zweimal wöchentlich die Fähre, von der alle größeren Güter inklusive möglicher Autos per Kran auf den Pier gehievt werden müssen. Entsprechend wenig touristische Infrastruktur findet sich, wovon allein die Vogelbeobachtungsstation schon die Hälfte abdeckt: eine Handvoll Unterkünfte, seit diesem Jahr immerhin ein zweiter Mini-Shop für Lebensnotwendiges, und zwei Cafés, die – sofern sie tatsächlich auf haben – wie praktisch alles auf der Insel von Bewohner*innen neben ihren anderen Jobs betrieben werden. Die Menschen hier sind freundlich, aber auch zurückhaltend. Es ist sicher nicht einfach, zum einen die Zukunft ihrer Insel zu sichern (was wohl nicht ohne ein paar dauerhaft Zuziehende sowie ein gesundes Maß an Tourismus gehen wird) und zum anderen den besonderen Charakter der Insel und ihre aufeinander angewiesene Gemeinschaft zu erhalten. Sie sind zumindest schon froh, dass es keine Campervans zu ihnen schaffen. Zum anderen freuen sie sich über jede Familie mit Kindern, die zuzieht, alleine schon, damit sie ihre Grundschule nicht mangels Schüler*innen schließen müssen, und die Orkney-Inselverwaltung und der schottische Staat gewähren einiges an Mitteln und Vergünstigungen, um Leute vom Festland zum Beispiel als Lehrer*in oder medizinische Fachkraft auf die Insel zu locken.
Eine ganze Woche haben wir nun in einem Cottage direkt unter dem Leuchtturm verbracht, in dem in früheren Zeiten die Wärter mit ihren Familien wohnten. Es war einsam, anfangs ziemlich windig bei Temperaturen von 8, 9 oder 10 Grad tags wie nachts, es regnete aber kaum und wurde in den letzten Tagen auch längere Zeit sonnig, wodurch man an windgeschützter Stelle schon kurze Zeit im T-Shirt sitzen konnte. (Eine Bewohnerin erzählte allerdings, dass es für die Landwirtschaft derzeit insgesamt zu wenig regnen würde; selbst Inseln im Nordatlantik sind offenbar nicht mehr davor gefeit.) Die Sicht wurde Ende der Woche so klar, dass man nicht nur die orkadischen Nachbarinseln, sondern sogar die 40 Kilometer enfernte Fair Isle sehen konnte. Leider blieb unser Cottage permanent fußkalt; wir waren froh, dass man seitens des Inselrats, dem die Cottages gehören, wenigstens Heizlüfter in den Räumen aufgestellt hatte. Das warme Wasser reichte auch nicht für ein echtes Bad. Zugleich sind die Zimmer gemütlich eingerichtet und die Küche vollständig. Sagen wir so: Es war eine außergewöhnliche und schöne Unterkunft, aber wir freuen uns schon auch auf die nächste.
Insgesamt eine sehr eindrückliche Woche, in der wir jeden Tag mit unseren Mietfahrrädern unterwegs waren, die verschiedenen Ecken der Insel besuchten, an steinigen wie auch südseehaft-weißsandigen Stränden liefen, Vögel, Schafe und Kaninchen zählten, den Leuchtturm bestiegen und uns vom letzten echten Wärter über dessen Geschichte erzählen ließen, die Möwe aus den wenigen im Shop verfügbaren Zutaten leckeres Essen zauberte, wir viel über das Leben und die Traditionen einer solchen Insel nachdachten und zwischendurch immer wieder einfach nur den Blick über das Meer schweifen ließen, nicht ohne insgeheim (vergeblich) auf vorbeiziehende Orkas oder Delphine zu hoffen. Und es war nicht verkehrt, sich in einer solchen Umgebung mal geballt mit seiner eigenen Unruhe konfrontiert zu sehen.
Die Vögel
North Ronaldsay ist aufgrund seiner exponierten Lage im Nordatlantik ein Hotspot seltener Vogelarten. Dort rasten nicht nur sämtliche arktischen Arten auf ihrem Herbst- oder Frühjahrszug, sondern es verweht auch immer wieder je nach Sturmrichtung asiatische oder amerikanische Vögel dorthin. Von den Raritäten haben wir – vielleicht im Gegensatz zu den Birdern, die die Insel täglich mit Ferngläsern ablaufen – zwar keine gesehen, aber dafür jede Menge der einheimischen. So wie die junge Rabenfamilie, die an jedem Tag woanders auftauchte, die Schmarotzerraubmöwe, die die Strände entlangstrich (stets unter Protest anwesender Seeschwalben oder Austernfischer), die Steinschmätzer, von denen man selten mehr als ihr weiß aufleuchtendes Schwanzfederband sah, weil sie immer sofort wegflogen, die permanent dramatisch trillernden Austernfischer, die blubbernden Brachvögel, die gutmütigen Eissturmvögel, die hier erstaunlicherweise nicht auf Felsen sondern auf dem Boden vorm Schafdeich brüten, die flötenden Sandregenpfeifer, Schwärme von herumwuselnden Steinwälzern im Tang, die kriekenden Küstenseeschwalben, die auf den Brachflächen brüten und im flachen Wasser nach kleinen Fischen stoßtauchen, viele andere Arten auch noch und nicht zu vergessen die Unmengen Stare, die in den Spalten der Trockenmauern ideale Nisthöhlen finden. (Puh, das waren viele Adjektive.)
Die Kaninchen
Die eigentlichen Herr*innen der Insel sind die Kaninchen. Ich habe noch nie so viele gesehen. Man kann nirgends stehen, ohne dass welche im Augenwinkel herumhoppeln, zu dieser Jahreszeit auch viele kleine. Ich blieb einmal stehen und zählte mit Fernglas alleine auf einem ca. 50×50 Meter großen Wiesenstück 85, auf der ganzen Insel sind es vermutlich tausende. Einmal saß sogar eines auf dem blanken Felsen an der Küste. Unglaublich.
Die Schafe
North-Ronaldsay-Schafe sind eine eigene Rasse, die schon seit Jahrtausenden auf der Insel lebt. Sehr klein, sehr robust, mit kleinen Hörnern und besonderer Wolle in allen möglichen Farben. Seit die Bewohner*innen sie im 19. Jahrhundert mit einer rundum laufenden Mauer an den Küstenstreifen verbannten, um das fruchtbare Inselinnere den ertragreicheren Rindern vorzubehalten, haben sie ihre Ernährung stark auf Seetang umgestellt. Damit einhergegangen ist sogar eine genetische Umstellung; sie dürfen mittlerweile nicht mehr allzuviel Gras fressen, weil sie dann eine Kupfervergiftung bekämen. (Die Kupferarmut des Tangs haben sie wohl durch eine extrem effiziente Verwertung kompensiert.) Lediglich Lämmer und ihre Mütter dürfen einige Zeit auf saftigen Wiesen verbringen. Ansonsten sieht man die Schafe tatsächlich stets an der Küste. Oder im Garten hinter unserem Cottage. Oder im Sonnenuntergang auf einem Steinwall am Meer (Herzchenaugenemoji).