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Auszeit, die letzten Tage auf Orkney Mainland

Am folgenden Tag ging es auf die zweitgrößte Orkney-Insel Hoy, auf die wir täglich aus unserer Unterkunft blickten. Und wir hatten Glück – die Fähren muss man früh buchen, da sie nur wenige Autos mitnehmen können, und zu dem Zeitpunkt war alles andere als absehbar, dass wir einen Tag mit ausreichend schönem und nicht übermäßig windigem Wetter erwischen würden, um die Wanderung entlang der Steilküste zum Old Man of Hoy machen zu können. Der Old Man ist ein 137 Meter hoher Fels, quasi Helgolands Lange Anna mal drei, und stand schon seit unserem Urlaub vor vier Jahren auf der Liste der Dinge, die wir unbedingt sehen wollten.

Die Insel ist mit ihren fast 500 Meter hohen Hügeln, ausgedehnten Mooren und nur 400 Bewohnern sehr anders als alle anderen Orkney-Inseln: rau, bergig, einsam, karg und oft in Wolken gehüllt, insgesamt mehr Island als Schottland. Auf der Straße zum Ausgangspunkt der Wanderung kamen wir an Bettie Corrigalls Grab vorbei. Eine junge Frau, die sich um 1770 das Leben nahm, weil sie die Schande nicht ertrug, nachdem sich der Vater ihres unehelichen Kindes aus dem Staub gemacht hatte. Aufgrund des Selbstmords wurde ihr kirchlicherseits eine Bestattung in den Gemeindegrenzen verwehrt, weswegen sie draußen im Moor vergraben wurde. Im 20. Jahrhundert stieß man beim Torfabstechen auf ihren im Sarg völlig erhalten gebliebenen Leichnam und vergrub ihn wieder und stieß Jahre später wieder darauf, bis ihr schließlich ein eigens gekennzeichnetes Grab gegeben wurde, auf dem seit 1976 ein Stein mit minimaler Inschrift („Here lies Bettie Corrigall“) an sie erinnert. Immer noch mitten im Nichts. Was für eine bittere Geschichte.

Wir waren früh auf dem Wanderweg zum Old Man und hatten den Hinweg praktisch für uns alleine. Eine beeindruckende Landschaft, nur Felsen, Heide und Moor, abgesehen von wenigen Skuas und Schwarzkehlchen praktisch unbelebt. Der immer noch sehr starke Wind hielt uns davon ab, für bessere Fotos allzu nahe an den Rand der weit über hundert Meter hohen Klippen zu gehen. Der Ausflug hatte uns mit anstrengendem Weg, sehr viel Wind und Sonne ganz schön müde gemacht, weswegen wir den folgenden Tag herumschlumpfend zuhause verbrachten, bis auf das Highlight eines abendlichen (bislang einzigen) Restaurantbesuchs.

Am Wochenende fand im Ort das jährliche Orkney Folk Festival statt; vier Tage mit jeder Menge Konzerten und Livemusik (leider praktisch kaum auf der Straße), in denen das verschlafene Städtchen ungeahnt quirlig wurde. Einen Auftritt mehrerer Songwriter in der Townhall haben wir besucht und auch den nachmittäglichen Aufmarsch der zwei Dudelsack-Kapellen der Insel, die wirklich gut spielten. Den Sonntag verbrachten wir mit einem Spaziergang durch Kirkwall und dem Besuch des Orkney-Museums, dann hieß es aufräumen und für die nächste Etappe der Reise packen.

Auszeit, die nächsten zehn Tage

Mittlerweile sind wir den 22. Tag auf Orkney. Das Wetter hat sich grundlegend geändert, es kam deutlich häufiger die Sonne raus, teilweise auch für längere Zeit, und anhaltender Regen oder kräftiger Wind wurden zur Ausnahme. Fast jeden Tag haben wir etwas unternommen, sind an schon bekannten oder neuen Stellen gelaufen oder haben für uns noch unbekannte Orte besichtigt und fotografiert, so dass sich die Speicherkarten der Kameras fast schneller füllten als ich Fotos aussortieren oder bearbeiten konnte. Nach wie vor ist mein Gehirn in seiner Tiktokstakkatogedankenwelt (Buddenbohm) gefangen und an meinem Grundzustand, wenig mentale Energie für alles und kaum etwas zu erzählen zu haben, hat sich wenig geändert. Ich hoffe sehr, auch hier tritt irgendwann Erholung ein.

Landschaft und Meer, Geschichte, Tierwelt, ständig wechselndes Wetter, Licht und Farben – die Möglichkeiten draußen zu sein, zu laufen und immer andere Eindrücke aufzunehmen sind praktisch endlos. (Auch ganz konkret durch das schottische Jedermannsrecht.) Und selbst wenn man mit Orkney Mainland jemals fertig würde, wären immer noch die ganzen anderen Inseln übrig. So pickt man sich jeden Tag nach Wetter, Lust und Energie etwas anderes heraus und es ist schön. Unser ursprüngliches Ziel, jeden Tag mindestens eine halbe Stunde draußen zu sein, haben wir jedenfalls längst um ein Vielfaches übererfüllt.

Ein Küstenrundweg im Sonnenschein vorbei an Schafweiden und einem kleinen Wäldchen. Ein idyllischer Garten entlang eines Bachs, den sich ein Grundbesitzer im letzten Jahrhundert angelegt hatte und der jetzt von einer Initiative weitergepflegt wird, voller niedriger Bäume, unter denen Teppiche von Osterglocken und Blue Bells leuchten. Eine Landspitze im Süden, von der man aus das schottische Festland sieht und an der noch jede Menge Geschützstationen aus den Weltkriegen im Fels gebaut stehen (Wale und Delfine konnten wir von hier aus leider nicht sehen, kommen aber wohl oft vorbei). Die Gezeiteninsel Brough of Birsay (aus unerfindlichen Gründen die meistbesuchte Attraktion, von den neolithischen Monumenten abgesehen), an denen die Eissturmvögel und Skuas an den Klippen segeln und Uferschwalben in der Sandabbruchkante nisten.

Ein wunderbar entschleunigter Tag auf der Insel Stronsay, wo wir uns mit vielleicht 8 Touristen auf vielen Kilometern Insel, spektakulären Küstenfelsen und weißen Strandbuchten verteilten. Der Aufstieg und Blick vom Hügel unseres Orts auf Stadt, Bucht und Berge der Nachbarinsel.

Der Besuch einer kleinen Farm mit wunderschönem Garten, die vom 16. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre bewohnt war und so belassen wurde. Eine tatsächlich noch rein mechanisch und traditionell genutzte Wassermühle, auf der im Winter Bere Barley gemahlen wird (eine alte Gerstenart, die tatsächlich schon in der Steinzeit auf der Insel angebaut wurde) und im Sommer kleine Besuchergruppen herumgeführt werden, samt Anlaufenlassen des Wasserrads und der Getriebe.

Spaziergänge durch die Hauptstadt Kirkwall und ihrer kleinen Geschäfte. Ein Sonnenuntergang an den neolithischen Standing Stones, an denen sonst tagsüber die Kreuzfahrttouristen busweise herumstapfen. Das war noch lange nicht alles, und ich merke erst jetzt beim Aufschreiben, wie viel wir allein in den letzten zehn Tagen unternommen haben, obwohl wir gefühlt die meiste Zeit gechillt zuhause saßen, immer wieder mit Blick aufs Meer und die Berge draußen.

Die letzte Woche auf Mainland ist angebrochen, vor uns liegen ein Wanderausflug auf eine Nachbarinsel, ein Abendessen im Restaurant (bislang haben wir uns praktisch nur selbst bekocht) und das lokale Folk Festival, auf dem wir eines der vielen Konzerte besuchen werden. Danach geht es weiter mit einer ganzen Woche auf der abgelegensten und kleinsten bewohnten Orkney-Inseln, wo uns noch weniger davon ablenken kann, einfach nur zu sein.

(Für die Tiere folgt ein eigener Eintrag.)

Auszeit, die ersten zwei Wochen

Die Idee entstand vor zwei Jahren. Immer schon, wenn wir einen schönen Urlaub nach den üblichen zwei Wochen beenden mussten, blieb der Gedanke: Jetzt hatte man einmal durchgeatmet und eine Gegend gerade einmal schnappschussartig kennengelernt, schon ging es zurück in die Arbeit. Aber wann hätte man je mehr Zeit – im Ruhestand mit Ende sechzig oder älter? Wer weiß, ob man dann noch fit durch entlegene Landschaften spazieren kann (oder überhaupt noch lebt).

Meine Firma bietet sehr unbürokratisch die Möglichkeit, Sabbaticals zu nehmen; zwischen einem und zwölf Monaten, an einem Stück oder in Scheiben, man muss nur eine Gesamtlaufzeit festlegen, über die das Gehalt entsprechend gesenkt wird. Wenn man es selbst finanziell hinbekommt, bleibt als einzige Hürde die Zustimmung der unmittelbaren Führungskraft. Als wir uns auf unserem Trip nach Verona mit meinem sehr geschätzten, damaligen Teamleiter und seiner Familie zum Essen trafen (sie machten auch gerade in der Gegend Urlaub), fragte ich ihn, was er davon hielte, wenn ich drei Monate Auszeit nähme, und er war sofort einverstanden. Eine Kollegin aus seinem Team hatte es vor einigen Jahren auch schon mal genutzt, um den Jakobsweg zu gehen, und es hatte ihr ausgesprochen gut getan. Bei der Möwe war es etwas komplizierter, da kleine Arbeitgeber selten solche vorgefertigten Abläufe mit den nötigen Versicherungen usw. haben, aber auch die Chefin der Möwe war einverstanden und es fand sich eine Lösung.

Anderthalb Jahre später ist es nun soweit, von Mai bis Ende Juli sind wir freigestellt und tatsächlich seit dem ersten Mai unterwegs. Die ersten fünf Wochen verbringen wir zurück auf den Orkneyinseln, anschließend drei Wochen auf der Insel Lewis, und nach ein paar Tagen zurück zuhause geht es noch einmal für zwei Wochen in die Bretagne, um nach viel nördlicher Abgeschiedenheit noch etwas Badeurlaub und sommerlichen Trubel mitzunehmen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das alles geht; ich weiß, das ist ein großes Privileg.

Und meine Güte, habe ich die Auszeit nötig. Hier haben sich normale Urlaubsreife, Jahre der Pandemie und Anspannung, ein extrem anstrengender Job in den ersten beiden Jahren, der Tod meiner Mutter und ein zunehmend unguter Lebensstil und Tagesrhythmus zu einem Level an Erschöpfung addiert, der es mir zunehmend schwerer machte, auch nur Bücher zu lesen, längere persönliche Gespräche zu führen oder gar etwas ins Blog zu schreiben. Ein chronisches Nebenmirstehen und Nichtmehrkonzentrierenkönnen.

Die erste Woche verbrachten wir dann praktisch auch nur mit schlafen, essen und rausschauen, bis die erste grobe Erschöpfung überwunden war. Bei tagelangem, kaltem, heftigem Dauerwind und starker Bewölkung gab es draußen ohnehin nicht viel zu unternehmen, und die gemütliche Ferienwohnung mit ständigem Blick auf Meer und Berge bzw. das, was Wolken und Nebel davon zeigten, bot alles, was man brauchte.

Seit dieser Woche ist das Wetter ruhiger, selten scheint sogar etwas Sonne durch die Wolken, es regnet tagsüber kaum und wir unternehmen erste Ausflüge: zum Ring of Brodgar (ein neolithischer Felskreis, größer als Stonehenge), Marwick Head (Vogelklippen), eine geführte Tour durch die oberen Etagen der St.-Magnus-Kathedrale, die Klippen von Yesnaby, größere Spazierrunden ums Haus, oder gestern einen ganzen Tag zu Fuß auf der Insel Shapinsay.

Bislang bin ich 60 Vogelarten begegnet, darunter so tollen wie dem Eistaucher, der Zwergseeschwalbe oder hunderten von balzrufenden Eisenten auf einem kleinen See. Auch andere Tiere habe ich schon gesehen, natürlich Schafe und Rinder, die zur Zeit mit vielen kleinen und kleinsten Jungtieren auf den Weiden stehen, aber auch wilde wie Kaninchen, Robben und sogar einen Otter, der ganz in der Nähe unserer Wohnung den Strand entlanglief. Dazu ist die Luft erfüllt von melancholischem Brachvogelblubbern, aufgeregtem Austernfischertrillern, Starenpfeifen und Feldlerchengezwitscher. Traumhaft.

Fürs erste sind wir angekommen.

Birding-Tour in Ungarn

Zu meinem Geburtstag im Frühjahr hatte sich die Möwe überlegt, mir – beziehungsweise uns – für den Herbst eine Vogelbeobachtungstour zu schenken. Eine 5tägige Reise in Ungarn eines auf Birding spezialisierten deutschen Anbieters bot sich an: etwas südlicher, also vermutlich noch mit recht angenehmen Temperaturen und in einem Land, dass wir beide noch nicht kannten (meine zwei kurzen Aufenthalte in der Hauptstadt vor Jahrzehnten zählen eher nicht). Die Tour begann und endete in Budapest, was man von uns aus vergleichsweise direkt in 8 Stunden mit dem Zug erreicht, ein weiterer Pluspunkt. Von dort ging es zunächst in die hügelige Landschaft rund um das Weingebiet von Tokaj im Nordosten und dann weiter südlich für mehrere Tage in die Puszta und den Nationalpark Hortobagy.

Zusammen mit zehn anderen Teilnehmer*innen waren wir praktisch jeden Tag von acht bis sechs mit dem Bus unterwegs, wanderten, beobachteten, fotografierten, kehrten zwischendurch irgendwo zum Mittagessen ein, und dann weiter mit geschulterten Spektiven als weithin sichtbare Gruppe von Freaks zum nächsten Feldrand, Wald oder Teichgebiet. Es klingt schwierig, aber tatsächlich hatten wir nie irgendeinen Zeitdruck und verbrachten die meiste Zeit in der Natur. Das Wetter war frühherbstlich schön und die Gruppe blieb sowohl im Bus als auch auf den Wegen oft schweigend, was gut tat, genauso wie die Abwesenheit vom Zwang, selbst herumfahren und Tagesabläufe, Orte oder Essen planen zu müssen. Ein Nachteil solcher vorgefertigten Reisen ist natürlich, dass die Verpflegung nicht immer das sein kann, was man sich selbst bestellt oder gar gekocht hätte, aber das Essen war dennoch stets anständig, halt nur immer zuviel und sehr deftig. Jedenfalls waren wir angenehm überrascht, wie problemlos eine so fremdbestimmte und mit fremden Leuten verbrachte Reise, und wie verbindend ein gemeinsames Spezialinteresse für unterschiedliche Charaktere unter dem Strich sein kann.

Nicht zuletzt hatten wir auch einen sympathischen, sehr erfahrenen Guide, der uns auf Deutsch seine Heimat und deren Vögel näher brachte (bzw. uns den Vögeln) und genau wusste, wo welche Arten zu finden waren, auch wenn sich zu seiner und unserer Enttäuschung weder Uhu noch Habichtskauz blicken ließen. Aber es kamen am Ende dennoch 11 neue Einträge auf meine Lebens-Artenliste und es blieben viele erinnerungswürdige Momente: Braunkehlchen, Grauammern und Raubwürger in den herbstlichen Weinbergen, ein schläfriger Waldkauz in einem Schornstein, zwei Dutzend Waldohreulen in ihren Schlafbäumen auf einem dörflichen Schulhof, See- und Kaiseradler, die morgens in Gruppen auf kahlen Bäumen sitzen und später mit einem einfachen Überflug mal eben tausend Gänse und Kiebitze am See in Aufruhr bringen, der Sound und Anblick abertausender Kraniche in der Abenddämmerung, der prächtige, rötliche Adlerbussard, die vollkommen unwirkliche, laut- und endlose Steppe der Puszta, ein Schwarzstorch, der soeben einem Adlerangriff entkommen direkt über uns hinwegfliegt, der Steinkauz, der mich aus einer verfallenen Hütte skeptisch beäugt… Wunderbar.

Nach unserer Rückkehr nach Budapest nutzten wir die 2-3 Stunden bis zum Sonnenuntergang noch für eine Mikro-Sightseeing-Runde zur Fischerbastei, eine Straßenbahnfahrt am Donauufer und ein kleines Abendessen in einem Wok-Imbiss (nach der Woche hatten wir unerklärlicherweise Lust auf Fleischloses mit viel Gemüse), und den anschließenden Samstag verbrachten wir wieder im Zug, dessen Verbindung natürlich auch weit entfernt von Norddeutschland nicht von den Folgen der sabotagebedingten Verspätungen verschont blieb.

Das war es für dieses Jahr mit Wegfahren. Die nächste Reise wird schon unser Sabbatical im kommenden Mai sein. Ich freu mich drauf.