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Gedanken über hierarchische Weltbilder

Als Mensch, der davon überzeugt ist, dass das Leben jedes Menschen samt aller Freude, Schmerzen, Gesundheit, Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben sollte wie das aller anderen, kann man an der Wirklichkeit verzweifeln. Gleichermaßen, wenn man praktisch und wissenschaftlich denkt: Es gibt ein gesellschaftliches Problem, es gibt dazu Studien mit recht klaren Hinweisen, wie man es deutlich mildern kann, aber gesellschaftlicher Diskurs und politische Programme bleiben trotzdem seit Jahrzehnten an den gleichen, erwiesenermaßen nicht-effektiven oder sogar kontraproduktiven Maßnahmen haften.

Wie kommt sowas? Wie kann man gegen erfundene Sprachpolizeien wettern und im gleichen Atemzug inklusive Sprache gesetzlich verbieten? Wie kann man sich als Familienpartei verstehen und gleichzeitig erbittert gegen die Zusammenführung von geflüchteten Eltern und Kindern kämpfen? Wie kann man sich Christ*in nennen und Hass auf Minderheiten schüren? Wie kann man mangelnde Integration in die Mehrheitsgesellschaft beklagen, aber Betroffenen genau diese Integration mit immer neuen Gängelungen und Einschränkungen verunmöglichen? Und so weiter. Sehen die alle nicht die Widersprüche?

Andere haben das früher begriffen als ich (und können klüger darüber sprechen), aber mir war lange einfach entgangen, was der Knackpunkt ist: die Prämisse, dass Menschen von Grund auf gleich sind (und sein sollten). Wenn man stattdessen davon ausgeht, dass es so etwas wie eine natürliche Hierarchie zwischen Menschen gibt (und geben muss), ergibt es plötzlich Sinn.

Im Wesentlichen spiegelt das hierarchische Weltbild die heutigen Machtverhältnisse in den meisten Gesellschaften wieder, insbesondere (ohne spezielle Reihenfolge):

  • Menschen stehen über Tieren und Natur,
  • Männer über Frauen,
  • Besitzende über wirtschaftlich Benachteiligte,
  • Nichtbehinderte über Behinderte,
  • Gesunde über Kranke,
  • Weiße über Nicht-Weiße,
  • Cissexuelle über trans-, intersexuelle und nicht-binäre Menschen
  • Erwachsene über Kinder,
  • Heterosexuelle über anders Begehrende,

… und noch weitere Hierarchien (darunter teilweise merkwürdig abgeleitete wie: Motorisierte über Radfahrer- und Fußgänger*innen)

Was an politischen und gesellschaftlichen Ideen kursiert, wird immer daran gemessen, ob sie diese Hierarchie entweder fördern oder aber destabilisieren (dazu reicht offenbar schon, nur ihre Grenzen verschwimmen zu lassen). In diesem Weltbild ist ein „Wir“ immer exklusiv. Und da es keine Gleichwertigkeit zwischen den Menschen gibt, ist ungleiche Behandlung auch gerecht und Gleichbehandlung ungerecht*. Gleichbehandlung mit Menschen unterhalb der eigenen Hierarchiestufe fühlt sich wie Diskriminierung an. Jeder hat seinen Platz in der Hierarchie „verdient“, im guten wie im schlechten Sinn, auch wenn dieser Platz ja praktisch durch eigenes Zutun nicht verändert werden kann.

Folgende Fragen sind für das Weltbild essentiell und stehen immer im Raum:

  • Identität: Welche Menschengruppen gelten als (in sich gute) menschliche Norm, welche als (in sich ungute, unzulängliche) Abweichung?
  • Fokus: Wessen Bedürfnisse stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit? Wessen Stimme hat Gewicht, wessen Stimme wird nicht einmal gehört? Aus wessen Sicht wird die Welt erklärt, mit wem wird sich dagegen praktisch nie identifiziert?
  • Dominanz: Wer soll über wen bestimmen dürfen? Wer darf nicht einmal über sich selbst bestimmen? Wer darf wen zum eigenen Vorteil ausnutzen? Wessen Fehlverhalten bis hin zu Gewalt wird geduldet, wessen wird bis hin zu Lappalien streng bestraft?

Nur ein paar Beispiele off the top of my head – ich selbst habe noch viele weitere im Kopf und denke, jeder kann hier ohne Mühe anlegen:

  • Die Einführung der Geldkarte für Geflüchtete, demnächst womöglich auch für Bürgerhartz-Empfänger. Es spielt keine Rolle, dass Pull-Effekte wissenschaftlich widerlegt sind, die Maßnahme ohne Not Hürden für ein reibungsloses, menschenwürdiges Leben aufbaut, Millionen kostet, kein einziges Problem löst und die Kommunen und andere Behörden überlastet, ja dass selbst die verteufelten Geldtransfers an Angehörige im Ausland sogar tendenziell positiv gegen Fluchtursachen wirken: Hier muss dominiert und gegängelt werden, denn die Zielgruppe soll nie höher auf der Leiter stehen dürfen, als es ihnen empfundenermaßen zugestanden wird.
  • Ein türkisches Arbeiterkind, das selbstverständlich für einen Übergang zur Hauptschule vorgesehen wird, während das deutsche Ingenieurskind bei gleichen, unter vermutlich leichteren Bedingungen erzielten Noten für das Gymnasium empfohlen wird.
  • Der Hass auf Greta Thunberg. Eine weibliche (1) Jugendliche (2) mit Autismus (3) weist öffentlich Alte Weiße Männer zurecht, sie sollen nicht länger hemmungslos den Menschen über die Natur stellen (4). Neben der grundsätzlichen Wut, wenn ein Verhalten, mit dem man sich identifiziert, an den Pranger gestellt wird, waren das für manche offenbar so viele Hierarchieverletzungen, dass sie sich gezwungen sahen, mit „Fuck-Greta“-Aufklebern auf ihren PS-starken Autos die innere Ordnung wiederzuherstellen.
  • Polizei: Unverhältnismäßiges Vorgehen gegen People of Color, Obdachlose und andere Marginalisierte, unzureichende Verfolgung von sexueller Gewalt: Im Idealfall deckt sich die „öffentliche Ordnung“ mit den Gesetzen, deren Einhaltung die Polizei forcieren soll, aber leider ist sie – nicht zuletzt geschichtlich gewachsen – immer noch zuallererst der buchstäbliche „Ordnungshüter“, der im Zweifelsfall mit der vom Staat zugestandenen Gewalt (bzw. deren selektiver Nichtanwendung) dafür sorgt, dass die oben aufgelistete gesellschaftliche Machtverteilung erhalten bleibt.
  • Jens Spahns „Die Pille danach ist kein Smartie“ – stellvertretend für die systematische Missachtung von Frauen, hier speziell in Gesundheitsfragen. Frauen kann man im hierarchischen Weltbild nicht zutrauen, eigenverantwortlich über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden (oder ihren Körper auch nur zuverlässig selbst wahrzunehmen). Letztlich bilden auch die Strafgesetzbuch-Paragraphen 218 und 219 diesen Geist ab.
  • Wenn eine muslimische Frau als Reinigungskraft ein Kopftuch trägt, wird das kaum jemand problematisieren. Wenn sie es als Lehrerin oder Anwältin tragen will, wird es zu einem überregionalen Politikum mit potentiell gewalttätigen Hasskampagnen.

Unsere Gesellschaft ist so tiefgreifend hierarchisch geprägt, dass niemand, mich eingeschlossen, nicht schon auf unwillkürlicher, emotionaler Ebene auf Hierarchiebrüche oder auch nur die Anwesenheit von Menschen „unterhalb“ der eigenen wahrgenommenen Hierarchiestufe reagiert. Die Frage ist, ob man dem Unwohlsein und eigenen Vorurteilen auf den Grund gehen und etwas entgegensetzen möchte, oder ob man Ängsten, Hass und dem Streben nach Dominanz freien Lauf lässt. (Wohin das im Fall kollektiver Aufstachelung im Extrem führen kann, muss man nicht weiter erläutern.)

Wie gesagt, für die meisten mögen diese Gedanken nicht neu oder bemerkenswert sein; ich habe darin zumindest einen stabilen Ansatz für viele gesellschaftliche Vorgänge gefunden, die ich mir zuvor nicht wirklich erklären konnte.** Das macht die zeitweilige Verzweiflung nicht besser. Aber zumindest sehe ich jetzt schon eher, warum manche Strategien dagegen völlig ins Leere laufen.

*: Natürlich bedingt die Vielfalt der Menschen unterschiedliche Behandlung, wenn sie gerecht sein soll (eine Frau mit Lähmung braucht womöglich Assistenz, ein Millionärssohn kein Bafög, usw.) – ich meine mit Gleichbehandlung hier Maßnahmen, die versuchen, eine Gleichheit der Lebensbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten herzustellen, und mit Ungleichbehandlung solche, die gesellschaftliche Ungleichheit und Machtgefälle zementieren oder vergrößern.

**: Das Thema ist uferlos und hat natürlich zahllose Bezüge und Ausformungen in allen Lebensbereichen wie Wirtschaftssystem, Religion, Familiensysteme usw. Ich bin froh, dass dieser Eintrag nicht noch länger geworden ist als ohnehin schon.

Polarlicht

Vermutlich am Donnerstag las ich schon, dass es auf der Sonne starke Eruptionen gegeben hatte und man daher am Wochenende Polarlichter bis in südliche Regionen erwarten könne. Naja, ich rechne mit einem blassen, rosa Schimmer am Horizont, und sollte ich nachts wach werden, würde ich sicher einen Blick darauf werfen.

Gestern Abend spät schreibt dann jemand in meiner Timeline, man solle jetzt unbedingt rausgehen, man würde etwas verpassen. Ich stelle mich ans Dachfenster mit der Kamera und wow, leuchtet der nördliche Himmel lila! Okay, Stativ geschnappt, das 14er Weitwinkel, meine Stirnlampe, und dann auf die Felder, wo ich Stunden zuvor noch eine Kiebitzwanderung vom LBV mitgemacht hatte. Mittendrin gibt es dort einzeln oder zu zweit stehende Bäume, dort hatte ich schon den Kometen Neowise vor 4 Jahren fotografiert, die würden sicher einen guten Vordergrund abgeben.

So verbringe ich die erste Stunde damit, Bäume samt untergehendem Mond vor dem gleichmäßig grün bis lila schimmernden, nördlichen Himmel zu fotografieren. Es ist tatsächlich so, dass man die Farben selbst nur ganz leicht sieht; unsere Augen sind nicht unbedingt auf Farben in der Dunkelheit optimiert. Erst ein Kamerasensor (ein Handy täte es auch) offenbart die ganze Pracht. Manchmal werden die Bäume vom Fernlicht in der Nähe vorbeifahrender Autos angeleuchtet, ich freue mich über den schönen Effekt.

So gegen Mitternacht fahre ich noch einmal ein paar hundert Meter weiter hinaus zu einem anderen Baum, und das ist der Moment, in dem die Farben anfangen, in Streifen über den Himmel zu tanzen, so intensiv, dass man sie jetzt auch mit bloßem Auge deutlich sieht. Während ich die Kamera Zeitraffer aufnehmen lasse, stehe ich im Dunkeln auf dem Feld und staune, nur begleitet von dem einen oder anderen Kiebietzruf sowie dem Gesang einer Nachtigall, der aus dem Nachbardorf herüberschallt.

Im letzten Zeitraffer sieht man, wie sich alles wieder beruhigt und in gleichmäßiges Schimmern übergeht. Es ist kurz nach eins, ich packe die Ausrüstung zusammen, fahre geflasht nach Hause und kann noch eine ganze Weile nicht schlafen. Polarlichter in Franken, was für ein Erlebnis.

Auszeit, zwei Wochen Bretagne

Nach acht Wochen in Schottland waren wir erstmals wieder zuhause. In der Zwischenzeit hatte eine Freundin dann und wann nach der Post geschaut, ansonsten waren Haus und Garten sich selbst überlassen, und das zur Hauptwachstumszeit. Herrje, sah das fürchterlich aus. Alles vor und hinter dem Haus war mannshoch gewuchert und zum Teil schon wieder vertrocknet. Immerhin blühten noch die Kamille, ein paar Kornblumen und etwas Klatschmohn dazwischen. Zumindest den zuvor einmal sichtbaren Weg, die Grenzen zu den Nachbarn sowie den Vorgarten schnitt ich halbwegs frei, den Rest müssen wir nach unserem Urlaub angehen. Auch generell brauchen wir wohl mal eine Beratung zur Gestaltung.

Nach drei Tagen packten wir den frisch gewarteten Corsa und fuhren in die Bretagne mit einem mehrtägigen Zwischenstopp bei unseren Eltern in Duisburg. Früher hatten wir gemeinsam bei meinen oder ihren Eltern übernachtet und die andere Seite besucht. Heute leben nur noch die Mutter der Möwe und mein Vater; beide brauchen viel mehr Unterstützung und Gesellschaft, so dass wir die Zeit praktisch komplett getrennt verbringen und uns nebenher auch ein bisschen um den Haushalt kümmern. Seit wir vor ein paar Jahren begriffen haben, dass die Zeit mit ihnen nicht mehr ewig sein wird, versuchen wir ohnehin so einmal im Monat ein Wochenende in Duisburg zu sein. Aber auch für den Urlaub bot sich der Zwischenstopp an: Die restlichen 850 Kilometer in die Bretagne sind anstrengend, aber machbar. Die kompletten 1200 Kilometer an einem Tag zu fahren ist dagegen aus Erfahrung grauenhaft und unvernünftig.

Nach so langer Zeit an mehr oder weniger entlegenen Orten hatten wir in der Bretagne diesmal nicht Meerblick als erstes Kriterium für die Unterkunft gesetzt, sondern Fußläufigkeit und lebendige Umgebung. Unsere Wohnung im (Austern-)Fischerort Cancale war dafür perfekt, genau auf halbem Weg zwischen dem Hafen mit seinen dutzenden Restaurants und dem Ortskern mit kleinen Geschäften.

Für mich ist der Ort und seine Umgebung praktisch wie zuhause; seit meiner Kindheit waren wir immer wieder dort im Urlaub, inzwischen auch mit der Möwe schon ein paar Mal. So lag der Schwerpunkt auch eher auf dem Dortsein als auf Erkundungen unbekannter Gegend. Natürlich gehören Saint-Malo, Dinan, Dol und Cap Frehel zum Pflichtprogramm (der Mont-Saint-Michel eigentlich auch, aber der ist in der Hochsaison unerträglich). Darüber hinaus fanden wir aber auch ein paar hübsche Stellen zum Laufen an der Küste, die ich noch nicht kannte.

Ein großes Highlight war die Bootstour, die die Möwe ausfindig gemacht hatte. Ich wusste bis dahin nicht einmal, dass in der Bucht ganzjährig Delfine leben. Und wir hatten tatsächlich das Glück, auf einer mehrstündigen Tour eines Naturschutzvereins in eine mindestens siebenköpfige Schule Großer Tümmler zu geraten, die zwanzig Minuten lang immer wieder um unser Schlauchboot herum auftauchten und (leider nur ein-zwei mal) in die Luft sprangen. Wunderbar.

Ansonsten verbrachten wir die Tage entspannt, mehrmals auch am kleinen Lieblingsstrand, kauften auf Märkten und im Supermarkt ein, kochten selbst (die Bretagne ist ein Paradies für gute Lebensmittel) oder gingen Galettes und Crepes oder auch mal im Restaurant essen, kauften Stoffe z. B. für den Bezug eines alten, aber noch gut brauchbaren Ikea-Schlafsofas, liefen abends an der Hafenpromenade entlang, schauten den Seidenreihern auf den Muschelbänken zu oder bestaunten die unfassbaren Meeresfrüchte-Etageren auf den Tischen der Restaurants mit ihren riesigen Krebsen und anderem Getier. Die Fenster der Ferienwohnung zur Straße waren gottseidank sehr gut schallgedämmt, denn lebendig ist der Ort zur Hauptsaison auf jeden Fall, manchmal bis tief in die Nacht. Aber so hatten wir es ja gewollt.

Ein schöner Höhepunkt gegen Ende der Reise war das Feuerwerk am Vorabend des Nationalfeiertags. Tausende Menschen versammelten sich am Hafen und schauten sich das viertelstündige Feuerwerk über der Mole an. Das war großartig, im Sand sitzen und so eine Show in komplettem Breitwandformat sehen zu können.

Am Freitagabend gingen wir noch einmal essen und am Samstagmorgen schließlich verabschiedete uns die Bretagne mit Wind und Regen. An den Ständen am Hafen kauften wir noch drei Dutzend frisch geerntete Austern für unsere Eltern und fuhren die neuneinhalb Stunden zurück nach Duisburg. Morgen geht es von hier endgültig nach Hause. Dann bleiben noch zwei Wochen Sabbatical übrig, bevor der Arbeitsalltag wieder übernimmt – ich kann mir noch nicht vorstellen, wie das wieder geht.

Auszeit, die letzten zwei Wochen Lewis (und Harris)

In den letzten knapp zwei Wochen auf Lewis ließen wir es etwas ruhiger angehen, auch weil das ungewöhnliche Sommerwetter tatsächlich nicht immer Lust machte, in der kräftigen Mittagssonne unterwegs zu sein. Wir verbrachten noch einmal einen Morgen am Garry Beach, diesmal bei Ebbe, wodurch einige vorgelagerte Felshügel am Strand freigelegt waren und man auf dem Sand durch Höhlen und Bögen spazieren konnte.

Draußen vor der Küste schienen große Fischschwärme zu ziehen, was hunderte von Basstölpeln zu einer ihrer frenetischen Jagden animierte, bei denen sie ununterbrochen torpedoartig ins Wasser hinabstoßen (Zeitlupe, ohne Ton):

Nicht weit entfernt (via Luftlinie, aber sehr wohl über Straßen) erlebten wir den Butt of Lewis, offiziell stürmischster Ort des Vereinigten Königreichs, nahezu bei Windstille – zuerst bei klarer Sicht, dann innerhalb kürzester Zeit vernebelt, wie später auch das hübsche Port of Ness.

An mehreren Abenden fuhren wir zum Tiumpan Head, einem Kap nicht weit von unserer Unterkunft, wo man praktisch einen 270°-Blick aufs offene Meer hat. Mehrmals konnte man Delfine und Zwergwale sehen, wenn auch leider nur sehr weit draußen. Unsere Hoffnung auf Orcas (die dort tatsächlich an einem der Tage Stunden zuvor gesichtet wurden) oder zumindest ein paar Delfine in Ufernähe erfüllte sich leider nicht. Dennoch ein schöner Ort, wenn die See glatt ist und abends eine sanfte Brise die Tageshitze wegweht.

Ein größerer Tagesausflug führte in den entlegenen Südwesten von Lewis. Zunächst zum Reef Beach, einem idyllischen, kilometerlangen Strand, den wir vor Jahren schon auf einer unserer Bootstouren vom Wasser aus kennengelernt hatten. Beim ersten Halt hörte man innerhalb von Minuten Wachtelkönig, Goldregenpfeifer und Kuckuck rufen, wie wunderbar! Wie damals tauchten Sterntaucher direkt am Strand, so nah habe ich sie nirgends sonst gesehen. Weiter ging es zum Gallan Head, einem Kap, von dem aus die Royal Air Force und zuletzt die NATO jahrzehntelang den Atlantik abhörte. Nach dem Abzug des Militärs wurde das Gelände von einer lokalen Initiative aufgekauft und seitdem nach und nach begeh- und bewohnbar gemacht wird. Die verlassenen, auf dem ganzen Kap verteilten Armeebaracken geben dem Ort ein sehr morbides Lost-Place-Flair. Auch hier ist ein idealer Beobachtungspunkt für Meeressäuger, und ich sah neben Rundkopfdelfinen auch meine ersten Weißschnauzendelfine draußen springen. Schließlich fuhren wir noch etwas weiter bis Uig Sands, einer Bucht, die sich bei Ebbe in einen kilometerweite Sandebene verwandelt. Nahezu unwirklich.

Ein Ausflug Richtung Harris führte am Aline Woodland vorbei, einem kleinen Waldgebiet direkt an der Hauptverbindungsstraße, das wir aber nach einer kleinen Runde über Bohlenwege wieder fluchend verließen, denn bei Windstille warteten jede Menge Bremsen offenbar nur darauf, unser Blut anzuzapfen. Weiter ging es über eine der abenteuerlichsten Single-Track-Roads der Inseln nach Hushinish, einer Landzunge mit schönem Strand, von der aus man die unbewohnte Insel Scarp sehen kann, auf der wir auf den vergangenen Bootstouren schon jeweils einmal angelandet waren. Leider auch ein beliebter Ort für Camper, obwohl am Ende der Straße nur ganz wenige Wohnmobile Platz finden. Ihnen auf der nur 2,50 Meter breiten Straße durch die Felslandschaft zu begegnen, die oft nur 20-30 Meter Sicht zur nächsten steilen Kurve oder Kuppe lässt, macht wenig Spaß. Aber die Landschaft war den Weg wert, und dass man an einer Stelle nahezu durch ein Schloss hindurchfährt, eine schöne Überraschung.

In der letzten Woche ließ das Sommerwetter etwas nach, es wurde wieder etwas kühler und nach mehreren praktisch trockenen Wochen kamen endlich ein paar Schauer und Gewitter, was uns in der Unterkunft nicht nur den Ausblick auf dramatische Wolken, sondern auch auf einen doppelten Regenbogen bescherte. Bei mehr Wind und mit Mückenspray ausgerüstet holten wir unsere kleineren Woodland Walks nach, einmal in den Bergen von Harris, und einmal den schon begonnenen Trail hinuter zu einem Loch (der hier wie oft als See daherkommt, aber eigentlich ein Meeresarm ist). Sehr schön, und wie so oft fast ganz für uns.

Als letztes Highlight der Reise stand noch ein Konzert an. Wir lieben Peter Gabriel, der 20 Jahre nach seinem letzten Studioalbum seit einiger Zeit monatlich neues Material veröffentlicht und seit einigen Wochen auf Tour ist. Zu den Terminen in Deutschland hätten wir ihn nicht sehen können, und da der Mann mittlerweile 73 Jahre alt ist, möchte ich nicht wetten, ob es überhaupt noch einmal eine Tour geben wird. Glücklicherweise stand aber auch ein Auftritt in Glasgow an, der in unseren längst gebuchten Urlaub passte. So verließen wir Lewis für einen Tag und eine Nacht in Glasgow und hatten sogar eine günstige Unterkunft in Fußnähe der Arena. Bislang kannten wir die Stadt nur von Durchreisen, wo wir jeweils mit Rollkoffern und/oder bei Regen unterwegs waren und den vielbeschworenen Charme der Stadt nicht sonderlich nachvollziehen konnten. Schön, dass wir diesmal etwas mehr Zeit und auch gutes Wetter hatten. Ein Kulturschock war es dennoch, nach sieben Wochen einsamer Inseln plötzlich in einer unwahrscheinlich lauten und lebhaften Umgebung zu sein. Was für eine chaotische Stadt. Gebäude aller Baustile und -zeiten stehen dort beziehungslos nebeneinander, dazwischen Brachflächen, überall Baustellen und Presslufthämmer, Verkehr, sehr viele Menschen. Uff. Andererseits sind viele Gebäude und Ecken auch sehr schön: die Kathedrale mit ihren unteren Kirchen, die Nekropolis mit Blick über die Stadt, das Rathaus mit seinen prunkvollen Räumen und Treppenhäusern, die Universität, die mit ihren gotischen Bauten nicht nur aussieht wie ein Kloster, sondern am Graduiertentag voller Student*innen im akademischen Dress war, was dem Campus einen Hauch von Hogwarts gab. Und die Stadt scheint vor kulturellen Angeboten, Straßenmusik und Ausstellungen nur so zu sprühen. Ich kann ihr jetzt nach den anderthalb Tagen mehr abgewinnen, auch wenn sie sicher kein Lieblingsort werden wird. Die Idee, das Zentrum anhand des „Mural Trail“ mit den starken Wandgemälden abzulaufen kann ich jedenfalls sehr empfehlen. Das Konzert abends war toll (auch wenn solche Arenen wie z. B. auch die Mercedes-Arena in Berlin, vormals O2, fürchterliche Stimmungshemmer sind). Mehr als zweieinhalb Stunden Musik und Show mit alten und neuen Songs, es war großartig.

Nun sind wir nach einem langen Reisetag wieder zurück in Deutschland und versuchen, uns an vergleichsweise tropische Temperaturen zurückzugewöhnen. Die unterwegs irgendwo liegen gebliebenen Koffer haben heute auch noch hergefunden, und wir werden ein paar Tage Kleinkram erledigen, bevor wir zur letzten Reise der Auszeit aufbrechen. Bis hierher erst einmal herzlichen Dank für die freundliche Begleitung und eure vielen Likes und Kommentare hier und auf Mastodon.