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Auszeit, die nächsten zehn Tage

Mittlerweile sind wir den 22. Tag auf Orkney. Das Wetter hat sich grundlegend geändert, es kam deutlich häufiger die Sonne raus, teilweise auch für längere Zeit, und anhaltender Regen oder kräftiger Wind wurden zur Ausnahme. Fast jeden Tag haben wir etwas unternommen, sind an schon bekannten oder neuen Stellen gelaufen oder haben für uns noch unbekannte Orte besichtigt und fotografiert, so dass sich die Speicherkarten der Kameras fast schneller füllten als ich Fotos aussortieren oder bearbeiten konnte. Nach wie vor ist mein Gehirn in seiner Tiktokstakkatogedankenwelt (Buddenbohm) gefangen und an meinem Grundzustand, wenig mentale Energie für alles und kaum etwas zu erzählen zu haben, hat sich wenig geändert. Ich hoffe sehr, auch hier tritt irgendwann Erholung ein.

Landschaft und Meer, Geschichte, Tierwelt, ständig wechselndes Wetter, Licht und Farben – die Möglichkeiten draußen zu sein, zu laufen und immer andere Eindrücke aufzunehmen sind praktisch endlos. (Auch ganz konkret durch das schottische Jedermannsrecht.) Und selbst wenn man mit Orkney Mainland jemals fertig würde, wären immer noch die ganzen anderen Inseln übrig. So pickt man sich jeden Tag nach Wetter, Lust und Energie etwas anderes heraus und es ist schön. Unser ursprüngliches Ziel, jeden Tag mindestens eine halbe Stunde draußen zu sein, haben wir jedenfalls längst um ein Vielfaches übererfüllt.

Ein Küstenrundweg im Sonnenschein vorbei an Schafweiden und einem kleinen Wäldchen. Ein idyllischer Garten entlang eines Bachs, den sich ein Grundbesitzer im letzten Jahrhundert angelegt hatte und der jetzt von einer Initiative weitergepflegt wird, voller niedriger Bäume, unter denen Teppiche von Osterglocken und Blue Bells leuchten. Eine Landspitze im Süden, von der man aus das schottische Festland sieht und an der noch jede Menge Geschützstationen aus den Weltkriegen im Fels gebaut stehen (Wale und Delfine konnten wir von hier aus leider nicht sehen, kommen aber wohl oft vorbei). Die Gezeiteninsel Brough of Birsay (aus unerfindlichen Gründen die meistbesuchte Attraktion, von den neolithischen Monumenten abgesehen), an denen die Eissturmvögel und Skuas an den Klippen segeln und Uferschwalben in der Sandabbruchkante nisten.

Ein wunderbar entschleunigter Tag auf der Insel Stronsay, wo wir uns mit vielleicht 8 Touristen auf vielen Kilometern Insel, spektakulären Küstenfelsen und weißen Strandbuchten verteilten. Der Aufstieg und Blick vom Hügel unseres Orts auf Stadt, Bucht und Berge der Nachbarinsel.

Der Besuch einer kleinen Farm mit wunderschönem Garten, die vom 16. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre bewohnt war und so belassen wurde. Eine tatsächlich noch rein mechanisch und traditionell genutzte Wassermühle, auf der im Winter Bere Barley gemahlen wird (eine alte Gerstenart, die tatsächlich schon in der Steinzeit auf der Insel angebaut wurde) und im Sommer kleine Besuchergruppen herumgeführt werden, samt Anlaufenlassen des Wasserrads und der Getriebe.

Spaziergänge durch die Hauptstadt Kirkwall und ihrer kleinen Geschäfte. Ein Sonnenuntergang an den neolithischen Standing Stones, an denen sonst tagsüber die Kreuzfahrttouristen busweise herumstapfen. Das war noch lange nicht alles, und ich merke erst jetzt beim Aufschreiben, wie viel wir allein in den letzten zehn Tagen unternommen haben, obwohl wir gefühlt die meiste Zeit gechillt zuhause saßen, immer wieder mit Blick aufs Meer und die Berge draußen.

Die letzte Woche auf Mainland ist angebrochen, vor uns liegen ein Wanderausflug auf eine Nachbarinsel, ein Abendessen im Restaurant (bislang haben wir uns praktisch nur selbst bekocht) und das lokale Folk Festival, auf dem wir eines der vielen Konzerte besuchen werden. Danach geht es weiter mit einer ganzen Woche auf der abgelegensten und kleinsten bewohnten Orkney-Inseln, wo uns noch weniger davon ablenken kann, einfach nur zu sein.

(Für die Tiere folgt ein eigener Eintrag.)

Auszeit, die ersten zwei Wochen

Die Idee entstand vor zwei Jahren. Immer schon, wenn wir einen schönen Urlaub nach den üblichen zwei Wochen beenden mussten, blieb der Gedanke: Jetzt hatte man einmal durchgeatmet und eine Gegend gerade einmal schnappschussartig kennengelernt, schon ging es zurück in die Arbeit. Aber wann hätte man je mehr Zeit – im Ruhestand mit Ende sechzig oder älter? Wer weiß, ob man dann noch fit durch entlegene Landschaften spazieren kann (oder überhaupt noch lebt).

Meine Firma bietet sehr unbürokratisch die Möglichkeit, Sabbaticals zu nehmen; zwischen einem und zwölf Monaten, an einem Stück oder in Scheiben, man muss nur eine Gesamtlaufzeit festlegen, über die das Gehalt entsprechend gesenkt wird. Wenn man es selbst finanziell hinbekommt, bleibt als einzige Hürde die Zustimmung der unmittelbaren Führungskraft. Als wir uns auf unserem Trip nach Verona mit meinem sehr geschätzten, damaligen Teamleiter und seiner Familie zum Essen trafen (sie machten auch gerade in der Gegend Urlaub), fragte ich ihn, was er davon hielte, wenn ich drei Monate Auszeit nähme, und er war sofort einverstanden. Eine Kollegin aus seinem Team hatte es vor einigen Jahren auch schon mal genutzt, um den Jakobsweg zu gehen, und es hatte ihr ausgesprochen gut getan. Bei der Möwe war es etwas komplizierter, da kleine Arbeitgeber selten solche vorgefertigten Abläufe mit den nötigen Versicherungen usw. haben, aber auch die Chefin der Möwe war einverstanden und es fand sich eine Lösung.

Anderthalb Jahre später ist es nun soweit, von Mai bis Ende Juli sind wir freigestellt und tatsächlich seit dem ersten Mai unterwegs. Die ersten fünf Wochen verbringen wir zurück auf den Orkneyinseln, anschließend drei Wochen auf der Insel Lewis, und nach ein paar Tagen zurück zuhause geht es noch einmal für zwei Wochen in die Bretagne, um nach viel nördlicher Abgeschiedenheit noch etwas Badeurlaub und sommerlichen Trubel mitzunehmen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das alles geht; ich weiß, das ist ein großes Privileg.

Und meine Güte, habe ich die Auszeit nötig. Hier haben sich normale Urlaubsreife, Jahre der Pandemie und Anspannung, ein extrem anstrengender Job in den ersten beiden Jahren, der Tod meiner Mutter und ein zunehmend unguter Lebensstil und Tagesrhythmus zu einem Level an Erschöpfung addiert, der es mir zunehmend schwerer machte, auch nur Bücher zu lesen, längere persönliche Gespräche zu führen oder gar etwas ins Blog zu schreiben. Ein chronisches Nebenmirstehen und Nichtmehrkonzentrierenkönnen.

Die erste Woche verbrachten wir dann praktisch auch nur mit schlafen, essen und rausschauen, bis die erste grobe Erschöpfung überwunden war. Bei tagelangem, kaltem, heftigem Dauerwind und starker Bewölkung gab es draußen ohnehin nicht viel zu unternehmen, und die gemütliche Ferienwohnung mit ständigem Blick auf Meer und Berge bzw. das, was Wolken und Nebel davon zeigten, bot alles, was man brauchte.

Seit dieser Woche ist das Wetter ruhiger, selten scheint sogar etwas Sonne durch die Wolken, es regnet tagsüber kaum und wir unternehmen erste Ausflüge: zum Ring of Brodgar (ein neolithischer Felskreis, größer als Stonehenge), Marwick Head (Vogelklippen), eine geführte Tour durch die oberen Etagen der St.-Magnus-Kathedrale, die Klippen von Yesnaby, größere Spazierrunden ums Haus, oder gestern einen ganzen Tag zu Fuß auf der Insel Shapinsay.

Bislang bin ich 60 Vogelarten begegnet, darunter so tollen wie dem Eistaucher, der Zwergseeschwalbe oder hunderten von balzrufenden Eisenten auf einem kleinen See. Auch andere Tiere habe ich schon gesehen, natürlich Schafe und Rinder, die zur Zeit mit vielen kleinen und kleinsten Jungtieren auf den Weiden stehen, aber auch wilde wie Kaninchen, Robben und sogar einen Otter, der ganz in der Nähe unserer Wohnung den Strand entlanglief. Dazu ist die Luft erfüllt von melancholischem Brachvogelblubbern, aufgeregtem Austernfischertrillern, Starenpfeifen und Feldlerchengezwitscher. Traumhaft.

Fürs erste sind wir angekommen.

Die Tiere

In punkto Birding war dieser Urlaub unspektakulär. 52 wohlbekannte Arten in zwei Wochen – und das in einer ganzen Region mit verschiedenen Habitaten, in denen wir unterwegs waren – da kann man zu einer anderen Jahreszeit an einem einzigen Morgen an einem See mehr begegnen. Aber es war auch kein primäres Ziel der Reise. (Auch wenn ich mich über ein, zwei Lifer, d.h. Erstsichtungen durchaus gefreut hätte.)

Dafür lebte eine ganze Reihe See- und Uferbewohner vor unserer Nase: Mehrere Stockenten mit Anhang, darunter vor allem eine, die mit ihrem „Teenie“ gerne auf unserem Steg ruhte und die ich bald ins Herz geschlossen hatte. Dann Familien von Haubentauchern, Blässhühnern und Schwänen, drei Flussseeschwalben und mehrere Rohrweihen, die immer mal wieder über dem Schilfufer jagten, Kormorane, Graureiher, Gänse, Spechte und jede Menge Singvögel sowie ein einsamer Storch. Auch die Inselfahrten haben dem nicht viel hinzugefügt: Mal ein Kolkrabe, mal ein paar Eiderenten, ein Trupp Nonnengänse oder ein Mehlschwalbennest unter dem Vordach eines Hafenhäuschens.

Dann gab es Insekten rund ums Haus, verschiedene Falter, ein paar Hornissen, aber vor allem die vielen Blaupfeile, die auch schon mal einen Kohlweißling oder Zitronenfalter verputzten, wenn sie nicht allein oder im Tandemflug über Wiese und Wasser sausten oder sich irgendwo sonnten.

Ein besonderes Erlebnis war ein Spaziergang an einer kleinen Landzunge unter Naturschutz, an der zu Zugzeiten im Frühling und Herbst tausende von Vögeln rasten sollen. Als wir dort waren: außer einer Handvoll Kormorane und ein paar Bluthänflingen überhaupt nichts. Immerhin stand dort das komfortabelste und schönste Vogelbeobachtungshäuschen, was wir je sahen (und das will was heißen, wenn man die britischen RSPB-Hides kennt). Aber nicht nur begegneten wir einer stattlichen Ringelnatter, bei deren unerwartetem Anblick man tatsächlich erst einmal erschrecken kann, sondern sahen auch unglaublich viele Schmetterlinge, die um eine Handvoll Kratzdisteln am Strand flatterten: Tagpfauenaugen, Kleiner Fuchs, Bläulinge, Ochsenaugen, Wiesenvögelchen, Kohlweißlinge und sogar ein Kaisermantel (mein erster), dazu verschiedenste andere fliegende Insekten. Und auf dem Rückweg durch ein Wäldchen sah ich auch noch meinen ersten Braunen Waldvogel.

Kurz nach unserer Ankunft hatten wir uns für eine vielversprechende Tour im Åsnen Nationalpark angemeldet: Vier Stunden mit einer Guide morgens per Boot durch die Seenlandschaft, um Fischadler bei der Jagd, Seeadler und Prachttaucher zu sehen, mit Chancen auf Otter und Elche (die wir auch sehr gerne einmal sehen wollten). Am Vortag dann die Absage: unsere Guide hatte Corona. So schade, wir hatten uns sehr darauf gefreut.

Nach einiger Recherche im Netz fanden wir ein Trostpflaster: ein mehrere Quadratkilometer großer Safari-Park, in dem verschiedene Wildtierarten leben: Mufflons, Bisons, Rot- und Damwild, Wildschweine und sogar wenige Elche. Man kann mit seinem Auto in Schrittgeschwindigkeit einen mehrere Kilometer langen Rundweg befahren, auch mehrfach (Ausstieg nicht erlaubt) und die Tiere beobachten, sofern sie sich denn zeigen. Viele Rezensenten im Internet beschweren sich, die Elche nicht gesehen zu haben, aber wir hatten Glück! Vielleicht lag es auch daran, dass wir nicht zur Mittagszeit in den Park fuhren, sondern erst kurz vor Einlassschluss am Abend, wo die Tiere wieder verstärkt aus dem Dickicht kommen, jedenfalls entdeckte ich zwei versteckt auf einer Wiese und dann lief auch noch ein dritter über unseren Weg. Ich bin ja kein besonderer Fan von Zoos und Wildgehegen mehr, aber dieses Gelände war so weitläufig und die Tiere so frei in ihrer Bewegung, dass ich es okay fand.

Wie lieb sehen bitte Elche aus mit ihren flauschigen Geweihen?

(Das war der dritte und letzte Teil der Urlaubsfotos.)

Unser Haus und die Inseln

Wenn man einmal angefangen hat, Ferienwohnungen nach Sichtweite von Wasserflächen auszusuchen, mag man nicht mehr zurück. Das macht die Reiserecherchen nicht einfacher, aber ich kenne nur wenig Entspannenderes als bei jedem Blick nach draußen aufs Wasser zu sehen, womöglich die dort schwimmenden Vögel, sich wiegendes Schilf oder leichte Wellen. Rausgehen zu können, sich bei diesem Anblick hinsetzen, einen Kaffee trinken oder sogar essen zu können. Und in dieser Hinsicht war unsere Unterkunft ein Traum; ein winziges, klassisch rotes Schwedenhäuschen mit erstaunlich vollständig ausgestatteter Küche und gemütlicher Wohn-Ess-Stube auf kleinstem Raum. Und die Vermieterin, eine ältere Dame, war auch ausgesprochen nett und gastfreundlich.

Baden mochte man zwar wegen des algigen Uferbereichs eher nicht, aber schon im Liegestuhl auf der Wiese dösen oder am Wasser auf dem Steg sitzen zu können war wunderbar. Nicht zu vergessen das Ruderboot mit dem schwachbrüstigen, aber fast lautlosen Elektromotor, was wir ganz zu unserer Verfügung hatten, um damit durch die Bucht zu gleiten, die angenehme Luft über dem Wasser zu genießen und manchmal an einer der vielen kleinen unbewohnten Schären anlanden und sich wie Robinson fühlen zu können. Ein absolutes Highlight der Reise.

Manche Tage haben wir auf diese Weise komplett zuhause verbracht, an anderen waren wir unterwegs: Ein Ausflug zum Autofriedhof im Wald, ein Besuch des Ikea-Museums am Ursprungsort (lohnenswert, eine Reise in die eigene Vergangenheit, wenn man wie ich praktisch sein Leben in Ikea-Möbeln verbracht hat), die Besichtigung einer Glasfabrik oder aber Fahrten mit der Fähre zu ausgewachsenen Inseln, um dort zu wandern.

Und diese Inseln, Tjärö und Hanö, waren jede auf ihre Weise landschaftlich eigen und wunderbar. Die erstere lieblich und fast mediterran, die zweite vor allem geprägt von unzähligen, runden, bemoosten Felsblöcken, zwischen denen ganze verwunschene Wälder wuchsen. Und auch wenn die Fähren ganz gut gefüllt waren, auf den Inseln hatten sich die Leute schnell verlaufen, so dass wir viel für uns allein spazieren konnten. So wie man überhaupt, vom Stadtfest in Karlshamn vielleicht abgesehen, die ganzen zwei Wochen trotz Hauptsaison und Ferienzeit nirgends besonders große Ansammlungen von Menschen traf.

Tjärö

Hanö