Archiv der Kategorie: Reisen

Tag 11: Wandern

Nach dem Frühstück zwei Brötchen mehr geschmiert, zum Mitnehmen in den Rucksack gepackt, und in der Morgensonne eine Stunde ins Tal nach gewandert, um wieder die Messe im Dom zu besuchen. Diesmal wurde eine ehemals christlich-orthodoxe junge Familie aus Syrien in die Gemeinde aufgenommen, das heißt, sie ist konvertiert. Dazu reichte ein mündliches Bekenntnis zum Katholizismus (andere Sakramente wie die Taufe sind ja bereits anerkannt). Habe ich auch zum ersten Mal miterlebt.

Nach der Messe mit Bus – Bummelbahn – Bus (hervorragend stündlich getaktet, auch am Sonntag) am Schluchsee vorbei zum Feldberg. Die Restpisten nur noch spärlich von ein paar Eltern mit ihren Kindern befahren, und auch sonst nur ruhiger Saisonende-Betrieb. Steil durch den Wald hinab gelaufen, teils durch breite Schmelzwasserbäche, teils auf 30-40 cm dicken, angeeisten Schneeflächen eiernd hinunter zum Feldsee, der noch zum größten Teil mit Eis bedeckt ist. In der Sonne sitzen ein paar Pärchen, ansonsten kaum jemand unterwegs. Nach einer Pause auf einem anderen, längeren Weg wieder hinauf. Nichts zu hören außer Vögeln und dem Rauschen, Plätschern und Tropfen des Schmelzwassers überall.

Mit dem Bus zurück zur Bahnstation, dort wegen reichlich Zeit draußen in einem Café gesessen, Cappuccino und ein köstliches Stück hausgemachter Schwarzwälder Kirschtorte genossen. Am Modelleisenbahn-Bahnhof (die ganze Gegend sieht aus wie die Modelleisenbahnlandschaft schlechthin) auf dem Bahnsteig Richtung Freiburg stehen Snowboard-Jungs, Wandererpärchen mittleren und älteren Jahrgangs, Familien mit sonnenmüden Kindern. In der Gegenrichtung steige nur ich zu. Zurück nach Seebrugg, dann mit dem Bus bis ins Tal unterhalb unseres Orts, von dort aus zu Fuß nochmal die letzten zwei Kilometer den Berg hoch.

Einen ganzen Tag unterwegs, ganz für mich, voller Sonne und Luft, trotz schmerzender Waden insgesamt 13 Kilometer und mehrere hundert Höhenmeter überwunden, so viel wie seit Ewigkeiten nicht mehr gelaufen, sitze ich jetzt hier, ein bisschen glücklich, mit angenehm schwerem Körper und Farbe im Gesicht, während draußen langsam die Sonne untergeht.

Tag 10: Halbzeit

Beim Frühsport noch windig und neblig kalt, kam heute früh die Sonne durch und bescherte blauen Himmel. Nach dem Frühstück gingen wir zwei Stunden wandern, wie immer durch Tempo und Höhenmeter kein Spaziergang, aber das Wetter, die Landschaft und die frische Luft waren wunderbar.

Irgendwas in den letzten Tagen hat mir heute einen heftigen Muskelkater in den unteren Waden beschert. Was ich dabei unglaublich finde, ist wie schnell meine Waden zugenommen haben. Nach der zwangsweisen Ruhepause durch den Beinbruch vor ein paar Jahren waren sie irgendwie zu dünn, unproportional zu meiner Figur und Gewicht. Jetzt sehen sie wieder aus, als wenn sie zu mir gehören und etwas leisten könnten. Meine T-Shirt-Ärmel sind auch schon etwas enger geworden. Das gefällt mir.

Den Rest des Tages trotz herrlichen Wetters mit Genuss drinnen geblieben, Musik gehört, ein Nickerchen gemacht, gelesen. Damit ist die halbe Zeit rum, und ich bin froh, hier zu sein. (Auch wenn mir die Möwe langsam fehlt.)

Tag 9: Spaß

Als Frühsport Nordic Walking im Dorf, mit Gymnastik. Nach dem Frühstück nochmal ein Vortrag vom Sportarzt über Ausdauertraining, verschiedene Energiestoffwechsel im Körper und welche man bei welcher Belastung des Kreislaufs hauptsächlich trainiert. Sehr interessant, ich hatte bislang keine Ahnung.

Anschließend die gefürchtete Einheit Wirbelsäulengymnastik beim triezenden Sportlehrer. (Was man wirklich sagen kann, denn die Spitzengruppe von uns Teilnehmern wird hauptsächlich von ihm betreut, und er scheint die Leute wirklich gerne heftig zu, äh, fordern.) Doch halb so schlimm. Einerseits war die Stunde tatsächlich etwas weniger pulstreibend als beim letzten Mal, stattdessen mehr auf Kraft, und andererseits habe ich beim Mitmachen einen Gang runtergeschaltet. So ging’s, und die Übungen waren immer noch anstrengend genug. Wirklich toll ist, dass sie hier in jeder Stunde andere Mittel einsetzen: Mal Sitzball, mal Tennisbälle, mal Kegel, und heute eben Thera-Band (meh) und TwistFit (yeah) – letzteres habe ich in einem Anfall von Begeisterung und mir-gut-für-zuhause-vorstellen-Können gleich auch gekauft, mit Rabatt durch die hiesigen Lehrer. Insgesamt muss ich sagen: Immer wieder erstaunlich, wie entspannt man Dinge manchmal angehen kann, nachdem man einen vorherigen Ärger für sich sortiert hat und beschließt, einfach so zu machen, wie es für einen selbst passt. Und der Lehrer ist auch in Ordnung und kann nichts für die Hühnchen, die ich vor Jahrzehnten mal mit seiner Zunft zu rupfen hatte.

Nachmittags eine Stunde Yoga. Kannte ich bislang noch nicht. Wir haben ein paar aktivierende und hauptsächlich entspannende Übungen gemacht. Insgesamt tat mir vor allem die Einbindung und bewusste Wahrnehmung des Atems gut. Ansonsten habe ich noch keinen besonderen Effekt bezüglich Entspannung, Gelassenheit, Körpergefühl wahrgenommen, aber zumindest könnte es etwas sein, was ich öfter machen wollen würde.

Am späteren Nachmittag nochmal eine ganze Einheit Nordic Walking in der inzwischen so halb durch den Nebel gedrungenen Sonne, wobei wir diesmal gegen Ende hin in einer Art Hüttenwirtschaft eingekehrt sind, wo ich mit Genuss meinen ersten Cappuccino seit einer Woche getrunken und mich gut mit den Kollegen unterhalten habe.

Das Abendessen war wie immer sehr liebevoll angerichtet – ich hab das mal beispielhaft für das fotografiert, was wir hier täglich zu essen bekommen. Für jemanden, dem leckeres Essen viel fürs Wohlbefinden bedeutet, ist das ein guter Ort. Gerade auch für die Teilnehmer, die hier Reduktions- oder kohlenhydratarme Kost wählen, finde ich umso wichtiger, dass das Essen ein Highlight ist. Falls sich übrigens jemand fragt, wie es bei Männern zwischen 45 und 60 um die Körperzufriedenheit steht: In unserer Vorstellungsrunde gaben mehr als Dreiviertel der Leute an, hier abnehmen zu wollen. Und von denen hat bestimmt ein Drittel nicht einmal ein Bäuchlein. Ich selbst hätte übrigens als nachrangiges Ziel auch nichts dagegen, 5 Kilo oder so weniger am Bauch zu haben, aber hauptsächlich, um beim Singen mehr Platz für die Luft zu haben.

Am Abend habe ich noch an einer Spezial-Session teilgenommen, die nicht zum Standardprogramm gehörte: Bogenschießen. Auch wenn ich diesmal ohne Zielvorrichtung an den Bögen ziemlich erfolglos war, war es doch wieder spannend und etwas, das ich gerne mal regelmäßig machen würde. Diese Ruhe, Konzentration, Atmung, Spannung, Entspannung – das ist einfach eine wunderbare Form, den Kopf freizukriegen.

Tag 8: Mein negatives Mantra

Schon um fünf aufgewacht, aber ausgeschlafen gewesen. Als sich der Nebel in die Täler und schließlich ganz zurückgezogen hatte, begann ein wunderbarer, wolkenloser Tag. Statt gemeinsamem Frühsport bin ich alleine los und wollte schauen, ob ich eigentlich noch joggen kann. Doch mein Fußgelenk war anderer Meinung. Auch das ganze Laufgefühl war fürchterlich verglichen mit früher, so als wäre mein Körper eine starre Konstruktion, die ungedämpft jede Bodenberührung bis in den Kopf weiterleitet. So bin ich letztlich nur zügig einmal um den Hügel gelaufen.

Mein Ärger über die Wirbelsäulengymnastik-Einheit gestern hat mich noch etwas beschäftigt. Wieso hat mich das so angestachelt? Bis ich drauf kam: Sport ist Quälerei. Das steht zumindest genau so fettgedruckt in meinen Grundüberzeugungen, seit meiner Kindheit, nur dass ich das nie in dieser Klarheit formulieren konnte. Insgeheim habe ich mir wohl gewünscht, dass der Aufenthalt diese Überzeugung durchbricht. Ich will, dass Sport endlich mal Spaß macht. Dass mein Körper gefordert wird, aber nicht tagelang schmerzt und alles bleischwer ist. Dass ich Fortschritte in Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer spüre. Und während ich gerade hoffnungsvolle Schritte in diese Richtung mache, kommt dieser Trainer und macht das erst einmal wieder kaputt, damit ich auch ja nicht vergisse, dass Sport Quälerei ist. (Rief mir mein Ärger zumindest zu.)

Ich war als Kind ziemlich moppelig und unsportlich. Bei Mannschaftssportarten wurde ich gerne zuletzt gewählt, oder zuweilen auch gönnerhaft der gegnerischen Mannschaft überlassen. Sport war immer Frust; gefühlt alle anderen waren schneller, warfen weiter, verbrachten ihre Freizeit gemeinsam im Fußball- oder Handballverein und so weiter. Sportlehrer taten das ihrige dazu. In der Unterstufe hatten wir einen alten Alkoholiker, der gerne mal über Leberwurstarme von Schülern lästerte und ansonsten unbeweglich am Rand stand und die Klasse mit der Trillerpfeife über einen Turn-Parkour scheuchte. Später kamen Lehrer*innen von dem Typ, die mit ihren Trainingsanzügen verwachsen sind und die sich viel lieber mit den Sportskanonen der Klasse abgaben – die zumindest bis zur Mittelstufe ohnehin deckungsgleich mit den Stars der Klasse waren. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Schwimmtest, wo ich eine knappe halbe Stunde gekrault habe wie ein Verrückter, danach völlig am Ende war (und das für 1-2 Tage) und für meine Leistung eine kleine 6 angeschrieben bekam. Die gleiche Note, als hätte ich mich auf die Bank gesetzt und die Teilnahme verweigert. Ähnlich motivierende Erlebnisse, die mein Mantra bestärkten und meine Abneigung gegen Sportlertypen bestärkten, gab es oft.
Ein positives Erlebnis war mal, wie wir nach Jahren ohne Leichtathletik in der Mittelstufe mal wieder 75-Meter-Lauf machten und ich völlig überraschend unter den ersten dreien im Ziel war. Erst später wurde mir klar, dass mein tägliches auf-den-letzten-Drücker-mit-schwerem-Tornister-zum-Zug-rennen irgendwie auch Sport war. Und mir wurde klar, wenn immer ich sportlich halbwegs fit sein wollte, müsste es etwas sein, was jeden Tag quasi beiläufig funktioniert.
Im Großen und Ganzen aber war Sport immer Quälerei, meine Arme und Beine sind seit ich denken kann nach kürzester Zeit schwer wie Blei, und wenn ich tatsächlich mal über Wochen zum Beispiel täglich Fahrrad gefahren bin und zumindest kreislaufmäßig ganz gut zurechtkam, kam eine Erkältung und ich durfte wieder von vorne anfangen. Über meine Scham, mit Kollegen oder anderen zusammen Sport zu machen und womöglich der Depp zu sein, dem man dann etwas mitleidig tolle Ratschläge gibt, mag ich gar nicht reden. Ach ja, mein Vater hasst übrigens Sport seit jeher, und meine Mutter hat auch nie welchen gemacht (fährt allerdings in den letzten Jahren regelmäßig mit dem Rad), das heißt auch von der Seite habe ich nie etwas anderes kennengelernt.

Und von dieser Grundüberzeugung will ich endlich wegkommen, denn ich weiß, dass Anstrengungen ohne fühlbaren Fortschritt und ohne das Gefühl, auch während des Sports Spaß zu haben, sonst früher oder später wieder dazu führen, dass ich keine Energie dafür habe.
Ich hoffe wirklich sehr, dass sich das hier noch ändert. Dass wir morgen beim besagten Sportlehrer ein weiteres Wirbelsäulentraining haben werden, stimmt mich diesbezüglich etwas düster. Mir tut jetzt noch alles weh.

Der morgendliche Vortrag ging ziemlich passend zu meinen Gedanken um das Thema, wie man die Erkenntnisse aus dem Gesundheitstraining erfolgreich in den Alltag integrieren kann. Der Psychologe zitierte Forschung, wonach man an die 250 Wiederholungen braucht, um neue Gewohnheiten dauerhaft in seinem „Autopiloten“ zu etablieren und sich nicht mehr jedesmal bewusst dafür entscheiden zu müssen. Das heißt, wenn es um Änderungen im Tagesablauf geht, muss man mindestens ein Dreivierteljahr durchhalten. Dazu gab es natürlich noch praktische Tipps: schriftlichen Plan machen, maximal 2 oder 3 Ziele setzen (aber besser nur eins nach dem anderen), sofort damit anfangen usw. Mein lieber Schwan. Ich habe ja jetzt schon drei Ziele, also abgesehen von dem oben beschriebenen mentalen:

  1. Mehrmals die Woche Wirbelsäulengymnastik
  2. Mehrmals die Woche Ausdauersport
  3. Aufhören zu essen, wenn ich satt bin (und Mahlzeiten entsprechend planen)

Nach dem Vortrag anderthalb Stunden Nordic Walking, was bei diesem Wetter erstmals so richtig schön war.
Nach dem Mittagessen (Fisch, Muscheln und Krabben auf Bandnudeln mit Safransauce, köstlich!) zunächst sensomotorisches Training, bei dem wir vor allem mit nackten Füßen verschiedene Wahrnehmungs- und Gymnastikübungen gemacht haben, und dann nochmal eine Stunde Wirbelsäulengymnastik, diesmal bei einer der Sportpraktikantinnen, die es echt gut gemacht hat. Am Ende des Nachmittags sind wir auf einen hohen Aussichtsturm im Ort gestiegen und haben das leicht im Dunst angedeutete Alpenpanorama bewundert.

Am Abend noch telefonisch geholfen, einen neuen DSL-Anschluss ans Laufen zu kriegen. Jetzt werde ich noch etwas Musik hören und morgen früh hoffentlich den meisten Muskelkater weggeschlafen haben.