Archiv der Kategorie: Reisen

Fotografieren mit einem anamorphotischen Objektiv

Wie ich darauf kam

Vor ein paar Jahren wurde ich auf die Crowdfunding-Aktion einer chinesischen Firma aufmerksam, die sich die Entwicklung eines Sets von speziellen Breitbild-Objektiven für Video finanzieren ließ. Mit Preisen von oft mehreren zehntausend Euro/Dollar waren anamorphotische Objektive bis dahin weitgehend unerschwinglich für alle, die nicht über das Budget großer Studios verfügten. Die Neuentwicklung versprach nun, diese Objektive auch für Normalsterbliche erschwinglich zu machen.

Nun bin ich Amateurknipser und kein Videomacher, aber ich fand die Technik spannend und bald sah ich, dass es Leute gab, die diese für Kino entwickelten Objektive auch zur reinen Fotografie einsetzten, mit faszinierenden Ergebnissen. Zum einen finde ich breite Bildformate ohnehin interessant, und zum anderen hatten diese Fotos einen ganz eigenen Look, den man mit einfachem Beschneiden oder dem Stitching von Einzelbildern zu einem Panorama nicht erreicht.

Was ist das anamorphotische Verfahren?

Anamorphotische Objektive haben das Breitwandkino und Formate wie Cinemascope ermöglicht. Klassischer Film ist mit einem Seitenverhältnis von 1,37:1 recht „quadratisch“. Die Objektive stauchen nun das Bild horizontal, so dass man z. B. ein Format von 2,4:1 auf dem Filmnegativ bzw. Sensor abbilden kann, ohne Material oder Pixel ungenutzt zu verschenken. Wenn früher ein solcher Film aufgeführt wurde, musste eine entsprechende Linse im Projektor den Vorgang wieder umkehren. Heute nutzt man natürlich Software, um digital zu „entstauchen“.

Die spezielle Optik der Objektive bringt außerdem weitere Charakteristiken mit sich wie z. B. horizontale Streifen durch helle Lichter im Bild, oder dass Lichtpunkte in der Unschärfe nicht rund sondern oval werden. Vermutlich assoziiert man das Format und diesen Look inzwischen weitgehend unbewusst mit Kino, selbst bei Einzelbildern – was einen guten Teil des Reizes ausmacht.

Mein Objektiv

Ich schlich in Folge mehrere Jahre um das Thema herum, schaute immer mal wieder Youtube-Videos, verfolgte Flickr-Gruppen und las Blogartikel, bis ich mir irgendwann sicher war, nicht wieder nur an kurzfristigem Gear-Acquisition-Syndrom zu leiden, sondern mich für diese Art der Fotografie wirklich zu interessieren. Der Preis von über 1000€ für so ein spezielles Nischendings hielt mich allerdings immer noch ab. Erst als vor einigen Monaten eine super leichte, neuere Objektivgeneration für Vollformat auf die Hälfte des Ursprungspreises reduziert wurde, schlug ich zu.

Sirui Saturn 35mm T2.9 1,6fach (Hersteller)

Ich habe mich dabei für die Brennweite 35mm entschieden (es gibt in der Serie auch noch 50mm und 75mm). Mich hat von Anfang an nur ein echtes Weitwinkel interessiert, um mit dem horizontalen Blickwinkel (hier entsprechend einer 22mm-Optik) richtige Panoramen oder auch Motive mit viel Kontext fotografieren zu können. Außerdem habe ich die Variante „Natural Flare“ gewählt, d.h. horizontale Streifen bei hellen Lichtpunkten sollen in der Farbe der Lichtquelle erscheinen und nicht in leuchtendem Blau, wie man es aus Science-Fiction-Filmen kennt. Allerdings ist dieses „Flaring“ bei dem Objektiv sehr gedämpft, man muss schon direkt in die Sonne fotografieren, um es hervorzurufen, siehe das Bild zum Vignettierungsproblem ganz unten. Die frühen Serien von Sirui waren diesbezüglich extrem, vermutlich hat das viele Kunden abgeschreckt. Ich selbst lege jetzt auch keinen besonderen Wert darauf, dass die Fotos wie Blade Runner oder Star Trek aussehen. Das Objektiv ist außerdem sehr klein und leicht (~400g), weil es für die Nutzung auf Kameradrohnen optimiert wurde. Normalerweise sind anamorphotische Objektive kiloschwer.

Arbeitsweise

Fotografieren und Nachbearbeitung sind etwas aufwändiger. Zunächst einmal funktioniert das Objektiv komplett mechanisch, d.h. Blende und Fokus müssen klassisch von Hand eingestellt werden, und es gibt auch keine elektronische Verbindung mit der Kamera, um den Fokusassistenten zu verwenden oder Aufnahmedaten auszutauschen. Ich nutze daher mit Blick durch den Sucher die Lupenfunktion an meiner spiegellosen Canon R5, um das Motiv mit dem Fokusring am Objektiv scharfzustellen. Mit der manuellen Blende bestimme ich die Schärfentiefe, von Blende T2.9 (alles vor oder hinter dem scharf gestellten Motiv wird so unscharf wie möglich) bis T16 (fast alle Ebenen des Bilds werden scharf). Die Belichtungszeit wähle ich ganz normal in der Kamera, die dann die passende ISO automatisch bestimmt. Dadurch, dass die spiegellose Kamera die tatsächliche Belichtung simulieren kann, sehe ich schon vorab im Sucher / auf dem Screen, ob sie passt. Die einzige Schwierigkeit ist, das Foto anhand einer gestauchten Darstellung zu komponieren. Manche videoorientierten Kameras können das Bild schon im Sucherbild strecken, meine kann es nicht. Man gewöhnt sich aber daran.

Die Aufnahme ist ein gestauchtes Foto, das in der Nachbearbeitung wieder zurück auf seine ursprüngliche Breite gebracht werden muss. Da es ein 1,6fach-Objektiv ist also das 1,6fache der Sensorbreite. (Dass das Foto hier vertikal gestaucht anstatt horizontal gestreckt aussieht, ist der Blogdarstellung geschuldet – tatsächlich wäre das untere so hoch wie das obere, aber 1,6 mal so breit.) Alle wichtigen Schnittprogramme für Video bringen die Funktion mit, in der RAW-Fotobearbeitung ist die Möglichkeit noch nicht so verbreitet.

Das Bild, wie es die Kamera sieht und aufnimmt.

Das Bild nach dem Entzerren.

In den ersten Wochen habe ich die RAW-Bilder in Capture One geladen, Belichtung am gestauchten Bild nachbearbeitet, dann als JPG exportiert, mit dem Kommandozeilen-Tool ImageMagick stapelweise entstaucht und die JPGs dann oft noch einmal mit GIMP nachbearbeitet. Umständlicher geht es kaum. Glücklicherweise hat Capture One, mit dem ich alle meine Fotos bearbeite, kürzlich die Möglichkeit eingeführt, auch RAW-Bilder bis zum Faktor 2 zu strecken. Zusammen mit anderen nützlichen neuen Features wie der KI-basierten Maskierung von Vorder- und Hintergrund war das ein Grund, nach Jahren mal wieder auf eine neue Version zu springen. Jetzt braucht es keine 30 Sekunden, um einen ganzen Stapel von Fotos auf einmal zu entstauchen, ohne das Tool für ein anderes verlassen zu müssen und einen Haufen Zwischendateien zu erzeugen. Was bleibt ist eine starke Verzerrung des Bilds mit einer Mischung aus Tonnenverzerrung in der Mitte und Kissenverzerrung an den äußeren Rändern, die vor allem bei geraden Linien im Bild auffallen und selbst in der Software nur schwer korrigiert werden können. Aber letztlich gehört das auch zum Look.

Ein paar Bilder

Zunächst habe ich das Objektiv bei ein paar Spaziergängen auf den Feldern in der Nähe ausprobiert.

Erstmals gezielt kam das Objektiv dann im Schottlandurlaub zum Einsatz. Die kleinen ehemaligen Fischerdörfer an der Nordküste Aberdeenshires kommen damit ganz wunderbar zur Geltung, finde ich.

Vignettierungsproblem (gelöst)

Von meinen ersten Ausflügen kam ich wie oben schon teilweise zu sehen mit einigen Fotos zurück, die extrem und ungewöhnlich vignettiert waren, mit nahezu schwarzen Balken am oberen Rand.

Ich dachte zunächst an einen Objektivfehler, aber dann fiel mir auf, dass der Effekt nur bei Fotos mit sehr kurzen Belichtungszeiten auftrat. Da das Objektiv recht lichtstark ist, hatte ich teilweise mit 1/4000stel oder sogar 1/8000stel Sekunde belichtet, um die Offenblende noch nutzen zu können. Das sah irgendwie nach einem Problem mit dem Verschluss aus. Nach etwas Recherche fand ich heraus, dass im Auslösemodus „elektronisch 1. Vorhang“ (den ich fast immer verwende) die Kamera normalerweise die momentane Brennweite berücksichtigt, um Abschattungen gezielt zu vermeiden. Durch die nicht existierende Kommunikation mit dem Objektiv fällt diese Anpassung flach, daher kann es bei super kurzen Belichtungszeiten tatsächlich eine waagerechte Abschattung durch den Sensorvorhang geben. Stellt man den Auslösemodus auf rein mechanisch oder rein elektronisch, tritt das Problem nicht mehr auf. (Was leider nicht heißt, dass ich im Weiteren immer daran gedacht hätte, an die Umstellung zu denken.)

Verwendung von Nahlinsen

Anamorphotische Objektive sind bauartbedingt nicht besonders gut, was die Naheinstellgrenze angeht. Bei meinem ist der Mindestabstand 90 cm, d.h. man kommt nicht gerade nah an sein Subjekt heran, um es groß abzubilden bzw. den Hintergrund besonders unscharf werden zu lassen. Dem kann man mit speziellen Nahlinsen abhelfen, die vorne wie ein Filter aufs Objektiv geschraubt werden. Es gibt sie typischerweise in Sets zum Beispiel mit 1,2,4 und 8 Dioptrien – ich habe ein solches Set für unter 20 Euro bekommen. Die Nahlinse reduziert den Fokusbereich entsprechend ihrer Dioptrienzahl auf 1m / X. Das heißt, wenn ich es richtig verstanden habe, rutscht der Unendlichkeitsfokus bei einer Linse mit 1 Dioptrien auf die Entfernung 1 m, man kann also nicht mehr auf weiter Entferntes scharf stellen und der Mindestabstand reduziert sich auf ca. 40 cm (noch nicht nachgemessen).

Vorgestern habe ich die 1-Dioptrien-Linse bei einem Morgenspaziergang ausprobiert, insbesondere bei Offenblende, um möglichst viel Unschärfe rund ums Motiv zu erzeugen, und bin von der Bildwirkung begeistert.

Fazit

Natürlich bleibt die Vogelfotografie mein erstes Steckenpferd. Davon abgesehen hat mir in den letzten Jahren aber nur wenig so viel kreativen Spaß beschert wie das Ausprobieren dieser Technik: Panorama-Fotos ganz eigener Qualität, ohne ungenutzte Pixel, teure Spezialkamera oder die knifflige Kombination von Einzelbildern. Das ist ab jetzt ein ständiger Bestandteil meines Arsenals, und ich freue mich schon auf den Herbst und städtische Lichter auf nassen Straßen in der Dämmerung – ich glaube, das wird damit richtig gut aussehen.

Isle of Mull, zweite Woche

Die zweite Woche begann mit einer von zwei schon vorab gebuchten Bootstouren, und zwar um Delfine und Wale zu sehen. (Die andere wäre schon am Montag der ersten Woche gewesen, aber wir konnten sie glücklicherweise einfach verschieben, nachdem nicht nur meine Wanderschuhe, sondern auch das Ladegerät für die Kamera-Batterien im zurückgebliebenen Koffer lagen.) Die Fahrt ging von Tobermory aus aufs offene Meer Richtung Westen und das Boot war ziemlich voll, leider auch mit Touristen der nervigen Sorte, die weitgehend rücksichtslos Plätze und Aussichten beanspruchten. Aber wir sahen auch Seeadler am Ufer, Robben, Gemeine Delfine und meinen allerersten Sturmwellenläufer. Das Highlight waren aber die Orcas, die wohl einzigen zwei, die dauerhaft in den Gewässern der Hebriden leben. Unser Bootsführer sagte, es sei erst das dritte Mal, dass sie sie in der zuende gehenden Saison gesehen hätten, wir hatten also sehr viel Glück. Ein beeindruckender, majestätischer Anblick, wie die beiden Wale nebeneinander durch die Bucht zogen, immer drei-vier Mal zum Luftholen erschienen, um dann wieder ein paar Minuten unter Wasser zu verschwinden und ganz woanders aufzutauchen.

Tags drauf wollten wir ein wenig von der westlichen Küste der oberen Halbinsel sehen. Zunächst ging es zum Loch Na Keal, der sie von den unteren Inselarmen trennt. Man hatte uns empfohlen, an einem Campingplatz Ausschau nach Seeadlern zu halten, und tatsächlich saßen zwei oben auf den Kiefern an den Hängen beim Ufer, leider zu weit weg für ein gutes Foto. Auf der kleinen Küstenstraße wurde der Ausblick auf die Bucht mit ihren umliegenden Bergen immer großartiger. Unterwegs kamen wir an einem hübschen Wasserfall vorbei und machten Picknick mit unserer Standardverpflegung, die wie immer aus Brot mit Käse oder Salami, ein bisschen Rohkost und Äpfel, ein Tütchen Chips und ein Schokoriegel bestand. Weiter ging es an einen kleinen, hübschen Strand, auf dem Hochlandkühe chillten, und schließlich wanderten wir noch ein paar Kilometer bei sommerlichen Temperaturen die Küste bei Treshnish entlang. Ein rundum schöner Tag.

Am Mittwoch stand die zweite Bootstour an, diesmal mit einem Ausflug zu den unbewohnten Inseln Staffa und Lunga.

Während wir an Staffa nur entlangschipperten, um die phänomenalen Basaltfelsen zu bestaunen, ging es auf Lunga zu einem langen Aufenthalt von vier Stunden an Land, bis uns das Boot wieder abholen würde. Die Insel ist im Wesentlichen ein bewachsener Felsen im Meer, auf dem im Sommer tausende Seevögel brüten. Man klettert einen Pfad zu einem Plateau hinauf und ist sofort von Papageitauchern umgeben, die in den weichen, grasbewachsenen Boden gegrabenen Höhlen ihre Jungen erbrüten und nach dem Schlüpfen beständig mit frisch gefangenen Sandaalen (kein Tippfehler) versorgen. Es ist ein ununterbrochenes Knorren, Herumwatscheln, Flattern, Abfliegen und Landen; wenn man sich am Wegrand hinsetzt, hockt man mitten drin und kann aus wenigen Metern zuschauen, wie sie von völlig ungerührt bis leicht an einem interessiert ihrem Brutgeschäft nachgehen. Wie schon auf den Flannan Isles (wo wir allerdings gerade einmal eine Stunde Zeit an Land hatten) ein unfassbar glücklich machendes Erlebnis. Ich hätte den ganzen Tag dort sitzen mögen.

Nach einem weiteren Aufstieg und einem Pfad rund um den Hügel gelangt man zum Harp Rock, einem unmittelbar vorgelagerten Felsen, an dem Lummen, Tordalken und Dreizehenmöwen brüten. Lärm und Geruch sind ohrenbetäubend bzw. atemberaubend schon bevor man um die letzte Ecke biegt und sie sieht. Und dann der Anblick der tausenden Vögel. Was für ein Privileg, dieses Naturspektakel aus nächster Nähe erleben zu dürfen.

Während das Wetter auf der Tour bedeckt, aber okay war, regnete es tags drauf von morgens bis abends von der Art, wo man auch in passender Kleidung nicht mehr vor die Tür gehen mochte, deswegen blieben wir im Cottage und verschlumpften die Zeit. Nur abends kam noch einmal die Sonne raus, ebenso wie das Reh mit seinem Jungen draußen vorm Cottage. Apropos Kleidung: Wir brauchten beide noch ein Paar wanderfähige Socken, außerdem hätten wir noch gerne Lebensmittel besorgt, die es in den kleinen Supermärkten auf der Insel nicht gab, so nutzten wir am Donnerstag die preiswerte Fähre (9€ pro Person hin- und zurück) für einen Tagesausflug „zurück“ nach Oban, wo wir lecker zu Mittag aßen, ein paar Stunden spazieren gingen und unsere Einkäufe machten. Natürlich waren die zwei einstündigen Schiffsfahrten vorbei am Lismore Lighthouse ein sehr willkommener Teil des Ausflugs.

Die südwestliche Inselspitze war von uns aus mit 75 km und anderthalb Stunden Fahrt am weitesten entfernt; daher war klar, dass wir diesen Teil von Mull sicher nur einmal besuchen würden. Nachdem uns verschiedene andere Inselgäste von der dort vorgelagerten kleinen Insel Iona vorgeschwärmt hatten, verknüpften wir die Fahrt mit einer Überfahrt (dann als Fußgänger) nach Iona, wo wir den Morgen damit verbrachten, bei herrlichstem Sonnenschein durch den pittoresken Ort vorbei an einer beeindruckenden alten Abtei Richtung Nordstrand zu wandern, nicht ohne einen Umweg über den Inselberg zu machen, von dem aus man einen großartigen Blick auf die Berge Mulls und die ganze Küste samt Inseln bis hin zu Staffa und Lunga hatte. Zurück hielten wir hier und dort an, wo es schön war und machten auch einen straßenmäßig sehr abenteuerlichen Abstecher zu einer berühmten Telefonzelle mitten am Berghang an einer beängstigend engen, kurvigen Single-Track-Straße und neben einem lauten Wasserfall. Gottlob waren wir alleine dort unterwegs; einen Kilometer rückwärts bis zur nächsten Ausweichbucht hätte ich diese Straße nicht fahren wollen. Zurück fuhren wir die „Scenic Route“, und die Bezeichnung war nicht gelogen; die Aussicht auf Loch Na Keal und die Berge rundherum war spektakulär. Leider war die Straße relativ belebt und zu eng, als dass es eine Möglichkeit gegeben hätte, mit dem Auto stehenzubleiben und zu fotografieren.

Der Sonntag war wieder dem gemütlichen Abwohnen des Cottages gewidmet; abends gingen wir noch eine größere Runde in den benachbarten Hügeln spazieren.

Isle of Mull, erste Woche

Zum Teil ist es die Erfahrung der mehrmonatigen Auszeit letztes Jahr, zum Teil vielleicht auch Ausdruck des Älterwerdens, jedenfalls war uns schnell klar, dass unser nächster Urlaub wieder mindestens drei Wochen an einen Ort gehen sollte. Also keine Rundreise mit ständigen Ortswechseln und Leben aus offenen Koffern. Einerseits sollte die Gegend ein bisschen vertraut sein, andererseits neu – so kamen wir auf Schottland (again) und die Insel Mull. Auf unseren Bootstouren 2017 und 2018 waren wir jeweils einige Stunden im Hauptort Tobermory, aber mehr kannten wir nicht.

Aufgrund von Flug- und Fährverbindungen war Edinborough statt Glasgow diesmal trotz größerer Entfernung der sinnvollere Flughafen, von dem aus es mit Mietwagen nach Oban und per Schiff auf die Insel gehen sollte. Wo wir irgendwann um Mitternacht, völlig erschöpft mit fünf Stunden Verspätung ankamen, weil ein Koffer in Amsterdam hängen geblieben war, wir stundenlang an einem Schalter anstehen mussten und dann aufgrund irreführender Infos auch noch länger dort warteten als ohnehin schon nötig. Immerhin hat uns der Hafen in Oban mit einem spektakulären und tröstlichen Sonnenuntergang empfangen, und im Cottage brannte auch überall Licht, um uns willkommen zu heißen.

In punkto Landschaft ist Mull ganz anders als die Orkneys, mit Bergen bis auf knapp 1000 Meter nicht nur viel gebirgiger, sondern auch ausgesprochen bewaldet. Während man auf Orkney oder Lewis quasi überall kilometerweit schauen kann, fährt man auf Mull schon mal wenige Meter entfernt von der Küste und sieht trotzdem nur Bäume. Zudem teilt sich die Insel in mehrere lange Arme, wodurch man vom einen zum anderen Ende bis zu zwei Stunden unterwegs sein kann. Das liegt allerdings auch am buchstäblich dünnen Straßennetz; bis auf zwei Teilstrecken zwischen Craignure und Tobermory sind die wenigen Straßen alle Single-Track, das heißt oft nur drei Meter breit mit gelegentlichen Ausweichbuchten. Und dadurch, dass es auf der ganzen Insel praktisch keinen zusammenhängend ebenen Hektar Fläche gibt, geht es mehr oder weniger ständig in Kurven auf und ab, mit nicht selten weniger Sicht als 40 Meter voraus. Da ist nichts mit fahren und entspannt in die Landschaft schauen; auch bei ständiger Aufmerksamkeit muss man nicht selten in die Eisen steigen, weil an der Kuppe plötzlich doch ein Lastwagen, Wohnmobil oder rasant fahrender Einheimischer auftaucht.

Das Autofahren war aber das einzige Anstrengende. Unser Cottage mit sensationellem Blick auf eine Burgruine und den Sound of Mull war gemütlich und schön, ganz besonders auch an den wenigen reinen Regentagen, und der Besuch von Rehen vorm Fenster jedesmal ein Highlight. Bis auf ganz wenige (stark verregnete) Tage, an denen wir höchstens zum nächsten Supermarkt ein paar Meilen entfernt fuhren, um uns zu versorgen, nutzten wir die Zeit, um die verschiedenen Ecken von Mull oder die umliegenden Inselchen zu erkunden, wobei wir uns wieder meist an den Wanderwegen von Walkhighlands orientierten, das überhaupt eine hervorragende Adresse für ganz Schottland ist.

Tobermory, der Hauptort Mulls mit etwa einem Drittel aller knapp 3.000 ganzjährigen Bewohner*innen (zum Vergleich: das flächenmäßig nur wenig größere Rügen hat mit 64.000 gut zwanzig mal so viele), ist ein Hafenstädtchen mit pittoresken, bunten Häusern und im Juli natürlich gut besucht, was vor allem mehr Autos als Parkplätze bedeutet. Aber mit seinen Shops, Cafés und Restaurants und der schönen Hafenkulisse auch sehr hübsch, weswegen wir einige Male dort waren, nicht zuletzt um auch einmal gut essen zu gehen. Am ersten Montag natürlich auch, um den dortigen Supermarkt auszuchecken. An gleichen Tag wurde erfreulicherweise auch mein Koffer in die Ferienwohnung nachgeliefert, das heißt ich konnte mich nach einer ausgiebigen Dusche freuen, in frische Klamotten zu steigen.

Aros Park ist ein Wald bei Tobermory mit einem schönen Rundweg durch den Küstenwald samt beeindruckenden Wasserfällen und einem kleinen See, das war am Dienstag der ersten Woche unser erster kleiner Wanderausflug.

Calgary Bay ist vermutlich der meistbesuchte Strand der Insel, wobei natürlich auch im Sommer nur wenige tatsächlich ins Wasser gehen. Er wird in Broschüren über Mull als einer der schönsten Strände der Hebriden angepriesen, allerdings kann er den Stränden von Harris und Lewis natürlich nicht das karibikgrüne Wasser reichen. Der naturnah-künstlerisch gestaltete Skulpturenpark in der Nähe ist auch sehenswert und seine zweieinhalb Pfund wert.

Am Donnerstag fanden die diesjährigen Highland Games der Insel statt, dazu hatte man auf einem Golfgelände oberhalb Tobermorys einen Parkour und Zelte für Verpflegung errichtet. Es regnete praktisch den ganzen Tag, aber das hielt weder die (zumeist einheimischen) Leute noch uns davon ab, stundenlang im nassen Gras zu stehen und die Athlet*innen beim Kraftsport wie dem Werfen von Hammern oder Felsbrocken, oder Hoch- und Weitsprung oder Laufen anzufeuern, unterbrochen von Darbietungen der Highschool-Dudelsackband von Oban und einem Burger vom Grill oder Kaffee und Kuchen aus einem der Zelte. Whisky wurde selbstverständlich auch ausgeschenkt, aber das ist ja nicht so unser Ding. Irgendwie machte das Spaß, vielleicht weil alles so heiter, unspektakulär und ganz untouristisch war.

Am nächsten Tag fuhren wir die Ostküste Richtung Süden, um in Fishnish nach Ottern und Seeadlern zu schauen, die Landspitze am Duart Castle zu besuchen, die man sonst nur prominent vom Schiff aus sieht, und ein wenig am Grass Point entlang zu laufen, einer weiteren Landspitze, die wir im Gegensatz zum Castle wieder ganz für uns hatten. Ein sehr schöner Tag mit 38 gesehenen Vogelarten (inklusive Adler!), so viele wie nur noch ein anderes Mal während des Urlaubs.

Den Samstag verbrachten wir schlumpfig in der Wohnung mit Lesen (Möwe) und Youtube (ich), wobei wir auch an solchen Tagen die Gelegenheit nutzten, abends noch eine Runde von 1-2 km um die Küste am Haus zu laufen.

Sonntag liefen wir am Loch Ba entlang. Ein sehr schönes, überraschend abgelegen wirkendes Tal mit See. Die heftigen Regenschauer waren nicht schön, doch erträglich. Ein größeres Problem war eher die Herde von Kühen mit ihren Kälbern, die verteilt auf den Hängen graste, bis ein Bauer mit seinem Quad vorbeifuhr, was offenbar ihr Signal war, innerhalb kürzester Zeit von überall her auf den Weg und auf uns zu zu rennen. Wir drückten uns ans Seeufer und warteten eine ganze Weile, bis sie vorbei waren, aber leider war der weitere Weg anschließend auch versperrt, so dass wir uns entschlossen, wieder zurück zum Auto zu laufen.

Eine schöne, erste Woche war vorbei und im Rückblick war wieder erstaunlich, wie viel wir trotz großer Endlich-Urlaub-Erschöpfung letztlich doch wieder unternommen hatten und gelaufen waren.

Auszeit, zwei Wochen Bretagne

Nach acht Wochen in Schottland waren wir erstmals wieder zuhause. In der Zwischenzeit hatte eine Freundin dann und wann nach der Post geschaut, ansonsten waren Haus und Garten sich selbst überlassen, und das zur Hauptwachstumszeit. Herrje, sah das fürchterlich aus. Alles vor und hinter dem Haus war mannshoch gewuchert und zum Teil schon wieder vertrocknet. Immerhin blühten noch die Kamille, ein paar Kornblumen und etwas Klatschmohn dazwischen. Zumindest den zuvor einmal sichtbaren Weg, die Grenzen zu den Nachbarn sowie den Vorgarten schnitt ich halbwegs frei, den Rest müssen wir nach unserem Urlaub angehen. Auch generell brauchen wir wohl mal eine Beratung zur Gestaltung.

Nach drei Tagen packten wir den frisch gewarteten Corsa und fuhren in die Bretagne mit einem mehrtägigen Zwischenstopp bei unseren Eltern in Duisburg. Früher hatten wir gemeinsam bei meinen oder ihren Eltern übernachtet und die andere Seite besucht. Heute leben nur noch die Mutter der Möwe und mein Vater; beide brauchen viel mehr Unterstützung und Gesellschaft, so dass wir die Zeit praktisch komplett getrennt verbringen und uns nebenher auch ein bisschen um den Haushalt kümmern. Seit wir vor ein paar Jahren begriffen haben, dass die Zeit mit ihnen nicht mehr ewig sein wird, versuchen wir ohnehin so einmal im Monat ein Wochenende in Duisburg zu sein. Aber auch für den Urlaub bot sich der Zwischenstopp an: Die restlichen 850 Kilometer in die Bretagne sind anstrengend, aber machbar. Die kompletten 1200 Kilometer an einem Tag zu fahren ist dagegen aus Erfahrung grauenhaft und unvernünftig.

Nach so langer Zeit an mehr oder weniger entlegenen Orten hatten wir in der Bretagne diesmal nicht Meerblick als erstes Kriterium für die Unterkunft gesetzt, sondern Fußläufigkeit und lebendige Umgebung. Unsere Wohnung im (Austern-)Fischerort Cancale war dafür perfekt, genau auf halbem Weg zwischen dem Hafen mit seinen dutzenden Restaurants und dem Ortskern mit kleinen Geschäften.

Für mich ist der Ort und seine Umgebung praktisch wie zuhause; seit meiner Kindheit waren wir immer wieder dort im Urlaub, inzwischen auch mit der Möwe schon ein paar Mal. So lag der Schwerpunkt auch eher auf dem Dortsein als auf Erkundungen unbekannter Gegend. Natürlich gehören Saint-Malo, Dinan, Dol und Cap Frehel zum Pflichtprogramm (der Mont-Saint-Michel eigentlich auch, aber der ist in der Hochsaison unerträglich). Darüber hinaus fanden wir aber auch ein paar hübsche Stellen zum Laufen an der Küste, die ich noch nicht kannte.

Ein großes Highlight war die Bootstour, die die Möwe ausfindig gemacht hatte. Ich wusste bis dahin nicht einmal, dass in der Bucht ganzjährig Delfine leben. Und wir hatten tatsächlich das Glück, auf einer mehrstündigen Tour eines Naturschutzvereins in eine mindestens siebenköpfige Schule Großer Tümmler zu geraten, die zwanzig Minuten lang immer wieder um unser Schlauchboot herum auftauchten und (leider nur ein-zwei mal) in die Luft sprangen. Wunderbar.

Ansonsten verbrachten wir die Tage entspannt, mehrmals auch am kleinen Lieblingsstrand, kauften auf Märkten und im Supermarkt ein, kochten selbst (die Bretagne ist ein Paradies für gute Lebensmittel) oder gingen Galettes und Crepes oder auch mal im Restaurant essen, kauften Stoffe z. B. für den Bezug eines alten, aber noch gut brauchbaren Ikea-Schlafsofas, liefen abends an der Hafenpromenade entlang, schauten den Seidenreihern auf den Muschelbänken zu oder bestaunten die unfassbaren Meeresfrüchte-Etageren auf den Tischen der Restaurants mit ihren riesigen Krebsen und anderem Getier. Die Fenster der Ferienwohnung zur Straße waren gottseidank sehr gut schallgedämmt, denn lebendig ist der Ort zur Hauptsaison auf jeden Fall, manchmal bis tief in die Nacht. Aber so hatten wir es ja gewollt.

Ein schöner Höhepunkt gegen Ende der Reise war das Feuerwerk am Vorabend des Nationalfeiertags. Tausende Menschen versammelten sich am Hafen und schauten sich das viertelstündige Feuerwerk über der Mole an. Das war großartig, im Sand sitzen und so eine Show in komplettem Breitwandformat sehen zu können.

Am Freitagabend gingen wir noch einmal essen und am Samstagmorgen schließlich verabschiedete uns die Bretagne mit Wind und Regen. An den Ständen am Hafen kauften wir noch drei Dutzend frisch geerntete Austern für unsere Eltern und fuhren die neuneinhalb Stunden zurück nach Duisburg. Morgen geht es von hier endgültig nach Hause. Dann bleiben noch zwei Wochen Sabbatical übrig, bevor der Arbeitsalltag wieder übernimmt – ich kann mir noch nicht vorstellen, wie das wieder geht.