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Tag 4: frei

Der Sonntag ist hier komplett zur freien Verfügung, ohne Programm. Sankt Blasien samt Dom wollte ich ohnehin sehen, warum also nicht gleich zur Sonntagsmesse. Nach dem Frühstück ca. 5 km hingelaufen, mutterseelenallein im Nebel, vorbei an kleinen stillgelegten Skiliften. An einer Dorfkirche zehn Minuten lang dem vierstimmigen Geläut gelauscht (geschätzt h-c#-d#-f#) oder vielmehr dem Oberton-Cluster, das sie erzeugten. Also diesem schwebenden, atmenden, sphärischen Klangteppich aus Obertönen, bei dem die einzelnen Schläge in den Hintergrund treten. Dieser Klang flasht mich immer wieder, wie ein Fenster in eine andere Welt. Und das Gleiche dann noch einmal eine Stunde später unten im Dom von Sankt Blasien, natürlich mit viel tieferen Glocken.
Mein Lieblingsarchitekturstil ist das ja nicht, dieser klassische Protz mit dicken Säulen und überall Marmor. Aber die Kuppel ist schon beeindruckend – auch wenn die 62 Meter Höhe des Doms im engen, steilen Tal komplett verlorengehen.

Noch einen Cappuccino im Café getrunken, dann mit dem Bus rechtzeitig zum Mittagessen wieder zurück im Hotel. Den Rest des Tages gelesen, Musik gehört, eine Runde Ergometer gefahren, jetzt noch ein Tatort, dann ist das Wochenende schon zuende. Sehe der nächsten Woche gespannt entgegen.

Tag 3: Wandern und Ausruhen

Vor dem Frühstück wie immer durch den Ort, diesmal mit Stöcken. Die Gymnastikeinheit wegen des Regens in einer kleinen, schummrigen Tiefgarage absolviert. Schräg.

Wer zum Teufel ist Ermine?

Nach dem Frühstück wieder raus in den Regen und Temperaturen knapp über Null, um zwei Stunden lang zu wandern, wohlweislich in der langsameren Gruppe. Wobei auch die mit ganz schön strammem Tempo und anstrengenden Aufstiegen lief, nur dass ich diesmal ganz gut im Mittelfeld war und nicht hinterherhecheln musste.

Der Großteil des Wegs verlief durch den Wald, das war schön. So wie die Möwe und mich ja überhaupt seit unserem ersten Island-Urlaub das Wandern und Umherlaufen in Wind und Regen nicht mehr abschreckt und wir uns mit „herrlichstes Islandwetter!“ auch zuhause gegenseitig motivieren können, trotzdem rauszugehen. Nur die letzten 2-3 Kilometer über die Felder waren heute doch ganz schön heftig, als einem die Sturmböen samt waagerechtem Regen den Atem verschlugen. Entsprechend kalt durchnässt und erschöpft angekommen und den programmfreien Rest des Tags daher konsequent nur noch mit Lesen und Sauna verbracht. Jetzt nach dem Abendessen ist mir warm und wohlig, und selbst der Muskelkater liegt schnurrend auf dem Sessel neben mir.

Tag 2: Too much

Mit etwas Muskelkater aufgewacht. Vor dem Frühstück wieder gemeinsam eine Runde durch den Ort gelaufen, diesmal mit Gymnastikeinlage, bei Sonnenschein und wunderbarer Aussicht in die Täler rundherum. Schon gemerkt, dass meine Muskelkraft ganz schön begrenzt ist, vor allem im linken Bein und Arm.

Nach Frühstück und Vortrag wurden wir dann in die drei Gruppen eingeteilt, und obwohl mein Ergebnis vom Walking-Test so schlecht war, hat man mich offenbar eher in der mittleren Gruppe gesehen. (Ich habe mich selbstverständlich eher als „Genießer“ denn „Normalo“ gesehen – allein schon der Name!) Erste Einheit war eine Stunde Aqua-Gymnastik im kleinen Schwimmbad. Die Sonne schien durch die Glasfront herein und aus den Boxen dröhnte „Smoke on the water“ und anderer Hardrock aus den 70ern und 80ern – das nenne ich eine gute Anpassung an die Zielgruppe. Aber in der folgenden Stunde bin ich wirklich an meine Grenzen gekommen: ununterbrochen mit Wasserhanteln alle möglichen Übungen, teilweise Beweglichkeit, viele auf Kraft und Ausdauer, so wie z. B. eine halbe Minute lang mit den Händen am Beckenrand mit beiden Beinen so oft wie möglich an die Brust hoch springen. Ich hing ziemlich in den Seilen. Und es war nicht das letzte Mal an diesem Tag, dass vor vor meinen Augen plötzlich ein besorgtes Kollegengesicht erscheinen sollte mit der Frage: „Hey, alles gut bei dir?“.

Der Zustand meines Kreislaufs und der Muskeln ist offenbar desaströs, denn ähnlich sollte es mir am Nachmittag mit dem gemeinsamen ersten Nordic Walking gehen, über ca. 6 Kilometer, wo ich selbst bei halbwegs ebener Strecke über 150 Puls hatte, kaum mehr Kraft in den Armen und japste, während andere noch deutlich unter ihrem Trainingspuls umherstöckelten. Die Sportlehrerin meinte dann auch, ich solle auf jeden Fall langsam machen und insgesamt schauen, ob ich nicht doch in die dritte Gruppe wechsle. Morgen ist nur ein „normales“ Wandern (vermutlich in kaltem, stürmischem Regen), der Rest des Wochenendes ist ohne Programm. Ich werde also Anfang nächster Woche mal sehen, ob ich dem Rat nicht besser folge.

Was ich übrigens toll finde, ist die ganze, neue Funktionskleidung. Ich weiß nicht, warum viele Polyester so verteufeln – diese Shirts, der Trainingsanzug, die Hosen und Laufschuhe, alles ist federleicht, angenehm auf der Haut bis teilweise richtig flauschig, und gibt bei längerer Bewegung nie das Gefühl, dass sie irgendwann nur noch nass und schwer an einem kleben so wie Baumwolle. Ich fürchte, ich werde nach meiner Rückkehr nur noch im Trainingsanzug herumlaufen wollen.

Trotz der Strapazen am Abend nochmal 40 Minuten Ergometer gefahren, vermutlich die einzige Dauerbewegung, die mir im Moment keine schmerzenden Muskeln macht und wo ich mit Pulsuhr und genügsamer Wattzahl gut klar komme. Mit dem neuen Album von Judith Holofernes auf den Ohren war es doppelt so gut. (Meine Empfehlung! Wieder eine große Dosis Wortschmiedekunst, und auch die Musik ist durchgehend besser als auf ihrem ersten Soloalbum, finde ich.)

Tag 1: Orientierung

Sagte ich gestern 30-40? Tatsächlich sind wir an die 70 Männer so zwischen 45 und 60, die wir das Hotel derzeit für uns haben; ich hatte nur noch nicht alle auf einmal gesehen. Als ich letzte Nacht kurz aufwachte, entstand da aus unerfindlichen Gründen das folgende Bild vor meinem inneren Auge. (Für das Hinzufügen einer genervten Eule reicht mein Talent leider nicht.)

Der Tagesablauf beginnt um halb Acht mit einer halben Stunde Aktivität vor dem Frühstück. Heute sind wir stramm durch den kleinen Ort gewandert, wo noch hier und da im Schatten ein paar Schneereste liegen, bekamen ein paar Schnipsel zur Geschichte erzählt und wissen jetzt, wo der Supermarkt ist und was man sonst noch ggf. in den Wochen brauchen könnte. Außerdem konnte man Eiger, Mönch und Jungfrau am Horizont sehen – das sind immerhin an die 150 km entfernte Alpengipfel! So ein klares Sonnenwetter war das heute.

Das 2000-Seelen-Dorf ist Luftkurort seit den Dreißigern und konnte zur besten Zeit weit über 400.000 Übernachtungen zählen. Heute sind es nur noch gut die Hälfte, und das sieht man dem Ort an. Nicht nur unser Hotel, auch die meisten anderen der ehemals sechs (!) Reha-Kliniken werden inzwischen nicht mehr für den Kurbetrieb genutzt. Für mich sind solche Kurorte immer noch „peak Westdeutschland“, man kann an allen Ecken die Nachkriegswirtschaftswunderkultur schmecken, in der man als Arbeitnehmer Anspruch auf seine krankenkassenbezahlte Kur hatte, bis dann die Gesundheitsreformen in den 90ern den ganzen Wirtschaftszweig, der davon lebte, radikal zurückstutzten. Und auch wenn es inzwischen um Ausdauersport und Ernährungsphysiologie statt Wellness und Kirschtorte geht und mein Aufenthalt nicht von Sozialkassen bezahlt wird, ist er doch vermutlich nur mehr der letzte Ausläufer einer Epoche. Es wird nicht mehr lange dauern und sie werden geldwerte Vorteile versteuern wollen, oder die Anteilseigner werden Einsparungen fordern, mit denen solche Programme endgültig über Bord gehen.

Zum Frühstück gab es ein bis auf die Wetterdaten informationsfreies Morgenblättchen des Hotels, inklusive sexistischem Witz für Technik-Männer. Vermutlich stellt man sich das unter zielgruppengerechter Kommunikation vor. *augenverdreh*

Der Rest des Tages besteht normalerweise aus ein- bis zwei Vorträgen sowie vor allem: Sport. Zu Beginn der drei Wochen stand heute ein Fitness-Test mit Pulsuhr (2 km Walking), in den im Wesentlichen Zeit, Schlusspuls und Alter einfließen. Das wird einerseits am Ende wiederholt, um den Erfolg der Maßnahme zu dokumentieren. Andererseits diente er der Einteilung in drei verschiedene Gruppen je nach Leistungsfähigkeit, die sie „Expressler“, „Normalos“ und „Genießer“ genannt haben. Ihr dürft raten!

Am Nachmittag mein initiales Arztgespräch gehabt, daher konnte ich nicht mit auf die einstündige Gruppenwanderung. Stattdessen im Fitnessraum eine halbe Stunde auf dem Ergometer beim vorgegebenen Trainingspuls gestrampelt. Tat gar nicht weh, und vor allem hatte ich ganz vergessen, wie wohlig und leicht man sich eine Stunde nach dem Sport in seiner Haut fühlen kann. Ich glaube, das wird gut hier.