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8.1. – Kälte, Achtsamkeit, Twitter

die Wetter-App zeigte nachts minus 17 Grad

In der Nacht zum Freitag. Mein lieber Schwan, so klirrend kalt war es Jahre nicht mehr. Gut, dass die Heizung seit kurz vor Weihnachten wieder einwandfrei läuft.

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Ich bin ja eher der Stirnband-Typ. Nicht nur sind mir Mützen fast immer zu eng (Hutgröße 60), sie machen auch Kopfschmerzen, und mich optisch, sagen mir mal, eher bemitleidenswert. Das Problem ist, dass man seit ein paar Jahren praktisch keine Stirnbänder mehr bekommt – von so superbreiten, knallbunten Dingern mal abgesehen, die so aussehen, als wäre man auf dem Weg zum nächsten Skilift. Andererseits gehen sie aber auch irgendwann kaputt (oder werden noch öfter von, äh, irgendwem liegen gelassen). Da ist es praktisch, jemanden an seiner Seite zu haben, die derzeit nach allem Möglichen sucht, was sie nähen könnte. Flauschig, maßgeschneidert, dezent, hach:

Stirnband

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Putting the mpfh in Strumpfhose.

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Bilanz Stunde der Wintervögel: 1 Fasan, 1 Mäusebussard, 2 Elstern, 2 Rabenkrähen, 3 Amseln, 8 Haussperlinge, 1 Hausrotschwanz, 4 Türkentauben. Keine Meisen oder Rotkehlchen. :-(

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Achtsamkeit, mindfulness. Das Wort liest man immer öfter, und ich dachte lange: Mensch schön, dass offenbar immer mehr Leute üben, achtsam gegenüber ihren Mitmenschen und ihrer Umgebung zu sein. Bis ich irgendwann merkte: Quatsch, es geht um schnöden Ego-Meditationskram. Der folgende Artikel hinterfragt sehr schön den Sinn davon, sich ganz auf den aktuellen Moment zu fokussieren. Und was es eigentlich heißt, wenn alle möglichen Unzufriedenheiten oder Unglück zur Frage einer persönlichen, wegmeditierbaren Einstellung gemacht werden:

What differentiates humans from animals is exactly this ability to step mentally outside of whatever is happening to us right now, and to assign it context and significance. Our happiness does not come so much from our experiences themselves, but from the stories we tell ourselves that make them matter.

But still, the advice to be more mindful often contains a hefty scoop of moralizing smugness, a kind of “moment-shaming” for the distractible, like a stern teacher scolding us for failing to concentrate in class. The implication is that by neglecting to live in the moment we are ungrateful and unspontaneous, we are wasting our lives, and therefore if we are unhappy, we really have only ourselves to blame.

Dazu passt ein Zitat aus diesem Longread, der sich damit beschäftigt, wie erstaunlich gut Meditation und Mindfulness in unsere Wirtschaftsordnung passen, sowohl was das Geschäft damit angeht, als auch die Einstellung, die ihr Inhalt in der westlich verwursteten Form vermittelt:

Detractors worry that secular mindfulness teachers have whitewashed the technique, dulling its self-critical edge. The management professor and Zen practitioner Ronald Purser pointed to a Stanford study that demonstrated that most workplace stress is caused by things like corporate dysfunction and job insecurity—not by “unmindful employees.” Corporations like mindfulness, he said, because it “keeps us within the fences of the neoliberal capitalist paradigm. It’s saying, ‘It’s your problem, get with the program, fix your stress, and get back to work!’ ”

Noch ein Longread, vielleicht der lesenswerteste, widmet sich dem verwandten Thema Zeitmanagement, wie es unser Leben ruiniert unter dem selbst auferlegten Zwang, unsere private und berufliche Zeit immer voller zu stopfen:

Technology […] meant that washing clothes no longer entailed a day bent over a mangle; a vacuum-cleaner could render a carpet spotless in minutes. Yet as the historian Ruth Cowan demonstrates in her 1983 book More Work for Mother, the result, for much of the 20th century, was not an increase in leisure time among those charged with doing the housework. Instead, as the efficiency of housework increased, so did the standards of cleanliness and domestic order that society came to expect. Now that the living-room carpet could be kept perfectly clean, it had to be; now that clothes never needed to be grubby, grubbiness was all the more taboo.

[…]

Personal productivity presents itself as an antidote to busyness when it might better be understood as yet another form of busyness. And as such, it serves the same psychological role that busyness has always served: to keep us sufficiently distracted that we don’t have to ask ourselves potentially terrifying questions about how we are spending our days. […]

You can seek to impose order on your inbox all you like – but eventually you’ll need to confront the fact that the deluge of messages, and the urge you feel to get them all dealt with, aren’t really about technology.

Ein Thema, das mich derzeit umtreibt. Einerseits schon kaum mehr aufnahmefähig außerhalb der Arbeit, andererseits der Trotz, mir dadurch nicht auch noch meine Freizeit vom Beruf nehmen zu lassen, und der Wunsch, möglichst viele andere Dinge auch noch zu tun, einfach weil sie mir gut tun. Also: Gut täten, wenn die Energie dafür nicht schon aufgebraucht wäre, und weil man irgendwann auch noch auf anderes zurückblicken möchte als nur Arbeit oder zuhause abhängen. (Vielleicht bin ich inzwischen doch in so etwas wie eine Midlife-Crisis geraten.)

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Die von mir sehr geschätzte Lindy West darüber, warum sie ihren Twitter-Account gelöscht hat:

Twitter, for the past five years, has been a machine where I put in unpaid work and tension headaches come out. I write jokes there for free. I post political commentary for free. I answer questions for free. I teach feminism 101 for free. Off Twitter, these are all things by which I make my living – in fact, they comprise the totality of my income. But on Twitter, I do them pro bono and, in return, I am micromanaged in real time by strangers; neo-Nazis mine my personal life for vulnerabilities to exploit; and men enjoy unfettered, direct access to my brain so they can inform me, for the thousandth time, that they would gladly rape me if I weren’t so fat.

I talk back and I am “feeding the trolls”. I say nothing and the harassment escalates. I report threats and I am a “censor”. I use mass-blocking tools to curb abuse and I am abused further for blocking “unfairly”. I have to conclude, after half a decade of troubleshooting, that it may simply be impossible to make this platform usable for anyone but trolls, robots and dictators.

Es ist beileibe nicht so, dass es nur amerikanische, prominente Guardian-Kolumnistinnen treffen würde, auch in meiner Timeline werden in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen (auch ganz ohne prominente Rolle) teilweise über lange Zeiträume systematisch angegriffen, beleidigt und bedroht, einfach nur weil sie Meinung und Haltung haben und dafür von marodierenden Trupps von rechten Frauenhassern zum Ziel gemacht wurden. Die Zahl der Rückmeldungen seitens Twitter, man könne an diesem Vergewaltigungswunsch oder jener Bedrohung gegen Kinder einer Twitterin nichts Verwerfliches finden, sind Legion. Die Botschaft dahinter: Jeder darf auf Twitter sagen, tun und lassen, was er will*, ohne Konsequenzen, auch wenn andere Menschen – zumeist marginalisierte Nutzer*innen – damit ganz zum Schweigen gebracht werden.

(*Ausnahme: Die Rechte großer Firmen werden berührt, z. B. wenn Leute GIFs von sportlichen Wettkämpfen posten – die sind nach wie vor schneller gelöscht als jemand FIFA-Ethikkommission sagen kann.)

Die Unfähigkeit Twitters, seine Nutzer zu schützen, ist gewollt und gewissermaßen Teil seiner DNA. Und da der nächste U.S.-Präsident Twitter jetzt schon als sein Pressezentrum nutzt, sogar höchstpersönlich jeden Tag Firmen, andere Politiker, fremde Regierungen aber auch einfach nur schutzlose Privatleute angreift, wie es ihm passt, wird sich daran wohl wenig ändern, im Gegenteil. Ich fürchte, Propaganda und Hassbotschaften werden Twitter im Rahmen der anstehenden Wahlen z. B. in Deutschland noch viel unbenutzbarer machen,

Ich liebe Twitter, den unmittelbaren Austausch mit euch, und was ich dort von vielen klugen Köpfen in den letzten Jahren gelernt habe. Aber wo wird die Grenze dessen sein, was wir tolerieren wollen? Setzen wir unsere Accounts auf „privat“ und machen weiter? Schauen (oder ducken) wir einfach nur weg, so lange wir selbst nicht betroffen sind? Twittern wir nur noch Sprachspiele, Tierfotos und unverfängliche Alltagssachen?

4.1. – Privilegien, Reisebuchung

(Der Timeline fern zu bleiben heißt ja nicht, mit einem Mal keine twitterwürdigen Gedanken mehr zu haben. Außerdem hatte ich noch ein paar Retweets übrig. Dann eben hier.)

The real reason my startup was successful – Ein Selfmade-Millionär darüber, wie viel von seinem Erfolg selfmade war. Sehr anschauliche Darstellung, was diese Privilegien sind, von denen man so viel liest.

Nach ausführlicher Beobachtung vom Arbeitsplatz aus kann ich sagen: Am neuen Bürostandort fällt Schnee schräg von links unten nach rechts oben.

Sommerreise ist gebucht. Wohl die teuerste, die wir uns jemals vorgenommen haben. Aber auch etwas Außergewöhnliches – noch einmal Schottland, aber diesmal über eine Woche lang an Bord eines kleinen Schiffs, das die Hebriden umrunden, unbewohnte Inseln ansteuern und einer Menge toller Tiere begegnen soll. Ich freue mich riesig, auch wenn wir jetzt noch über ein halbes Jahr darauf warten müssen.

Ich habe noch nie viele Kosmetikprodukte gekauft. Aber das hier muss ich haben.

Zeit, dass mal andere ans Steuer kommen!

Zwischen den Jahren

Was 2016 nicht so schön war: die Gesundheit. Die Hälfte des Schottlandurlaubs weitgehend invalid in der Unterkunft herumzuhängen, auch Wochen danach noch Tag für Tag mit Rückenschmerzen herumzuhumpeln, vom Arzt in anderer Sache Sätze wie „dafür sind Sie eigentlich noch zu jung“ zu hören – in dem Jahr wurde ich zum ersten Mal ernsthaft damit konfrontiert, dass mit der zweiten Hälfte der 40er auch der Körper nicht mehr so selbstverständlich und sorgenfrei funktioniert wie früher. Und kurz vor Weihnachten hat auch die Möwe nachgelegt. Nicht schön. Damit ist auch ein Thema für 2017 gesetzt: Nachhaltig fitter werden. Dass mein Arbeitgeber mir nach drei Jahren auf der Warteliste für diesen Frühling endlich den Termin für ein dreiwöchiges Gesundheitstraining im Schwarzwald zugeteilt hat, passt schon mal sehr gut.

Der geschenkt bekommene Noise-Cancelling-Kopfhörer kann seine Stärken angesichts spärlich anwesender Kolleg*innen zwar noch nicht ausspielen, aber verspricht ebenfalls eine gute Verteidigungswaffe Hilfe fürs Großraumbüro zu werden.

Ebenfalls hätte ich 2016 gerne darauf verzichtet zu erleben, wie viele Menschen sich darin gefallen, Hass, Rassismus und generell eine Spaltung der Gesellschaft zu akzeptieren, wenn nicht voranzutreiben. Brexit, Erdogan, Trump, AfD – die Lust an der Demontage von Minderheitenrechten und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist trotz hoffnungsvoller Gegenmomente erschreckend. Ich bin dünnhäutig geworden und kann den Ton, mit dem selbst in der Kuschelgruppenecke meiner Twittertimeline direkt oder indirekt (z. B. in verlinkten Texten) auf andere eingedroschen wird, nurmehr schwer ertragen. Daher bleibt Twitter fürs erste aus und ich twittere sozusagen im Blog. Auch wenn das – verglichen mit meinen schon nicht übermäßig vielen Followern auf Twitter – hier quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert. Aber seelisch muss ich dieses Jahr eine neue Balance finden und das Dämpfen täglicher Weltschmerzreize gehört dazu. (Ich weiß sehr wohl, dass es ein Privileg ist, das überhaupt tun zu können.)

Was 2016 schön war: Fünf Jahre nach dem Umzug endlich erste Schritte in der Kirchengemeinde getan. Gemeinsam mit anderen Gottesdienste vorbereitet, gelesen, sogar etwas vorgesungen. Liturgie war immer schon mein Steckenpferd, und diese Möglichkeit mich einzubringen hat mir gefehlt. Abgesehen davon, dass wir damit auch langsam im Viertel Wurzeln schlagen und schon eine ganze Reihe sehr freundlicher Leute kennengelernt haben.

2016 seit langem mal wieder viel Musik entdeckt und/oder über neue Alben gefreut:

Marble Sounds, „Toutou“ (melodiöser Pop aus Belgien)

Bon Iver, „Bon Iver“ und „22, A Million“ (ja, ich kannte bis zu diesem Jahr nur „Holocene“, der Hype nach ihrem ersten Album war ganz an mir vorbeigegangen)

Die Höchste Eisenbahn, „Wer bringt mich jetzt zu den Anderen“ (Die Band kannte ich bis zur Empfehlung durch @jholofernes auch noch nicht. Bisschen vernuschelter Gesang, aber schöne Textzeilen und herzerwärmende Arrangements.)

Dream The Electric Sleep, „Beneath the Dark Wide Sky“ (Hardrock mit guter Stimme, erinnert an bessere Sachen aus den 80ern)

Radiohead, „A Moon Shaped Pool“ (Lieblingsalbum des Jahres)

The Notwist, „Superheroes, Ghostvillains and Stuff“ (Super Album. Ich bin ja eher der Studioalbum-Typ, weil meist besser eingesungen und arrangiert. Aber was The Notwist live aus den Songs rausholt, ist großartig.)

Nico Muhly, „A Good Understanding“ (entrückende Chormusik)

Ich wünsche euch ein gutes Jahr.

Früher war alles besser, nicht wahr

Die Gesellschaft entsolidarisiert sich immer mehr, die Empathie nimmt ab und die Menschen verrohen. Früher gab es nicht so viel Gewalt und Gleichgültigkeit. In so vielen Diskussionen, ob in den Medien oder mit Verwandten, Kollegen oder Nachbarn kommt diese Wahrnehmung offen oder implizit zum Ausdruck.

Und ich frage mich immer: Welches Früher meinen die? Wann war diese goldene Zeit, in der man sich umeinander gekümmert und Rücksicht genommen hat? In welches Früher wünschen sich die Leute zurück?

Das Früher, als man gemeinhin fand, Vergewaltigung in der Ehe könne es per Definition nicht geben?
Das Früher, als so manche meinten, Kinder wollten den Sex mit Erwachsenen doch auch?
Das Früher, als man Kinder selbstverständlich verprügeln durfte?
Das Früher, als es als Straftat galt, gleichgeschlechtlich zu lieben, und viele damit erpresst wurden?
Das Früher, als schwierige oder von Eltern verlassene Jugendliche weggesperrt, misshandelt, ihre Persönlichkeit gebrochen & ihre Arbeitskraft ausgebeutet wurde?
Das Früher, als deutschen Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter komplett am Arsch vorbei gingen?
Das Früher, als höchste Richter der Bundesrepublik ganzen Volksgruppen einen Hang zur Kriminalität zuschrieben?
Das Früher, als Behinderte zu Tausenden weggeschlossen, zwangssterilisiert oder ermordet wurden?
Das Früher, als man seinen Nachbarn denunzierte, ihn in den Tod schickte und sich sein Hab und Gut unter den Nagel riss?

Ja, es gibt noch so viel zu tun, es gibt Unrecht und Gleichgültigkeit und reaktionären Backlash und rohe Gewalt. Aber es wird besser. Langsam vielleicht und mit Rückschlägen, aber besser.