(Ich schreibe das hier auf, weil ich versuche, meinen Gesinnungswandel beim Thema Abtreibung in den vergangenen Jahren festzuhalten. Ansonsten ist es die Meinung eines nicht schwanger werden könnenden Mannes und insofern sicher weder sensationell noch notwendigerweise relevant.)
Frauen* werden gemeinhin weitgehend allein für alles verantwortlich gemacht und verurteilt, was mit Schwangerschaft und Kindern zu tun hat. Väter, Familiensysteme, gesellschaftliches Rollenverständnis, Gesetze, wirtschaftliche Faktoren, all das wird oft kurz angeleuchtet, doch dann richtet man den Scheinwerfer gerne wieder auf „die Frau“ und was sie falsch macht:
- wenn sie grundsätzlich keine Kinder haben möchte, ist sie selbstsüchtig und karrieregeil
- wenn sie eine Empfängnis mit der Pille danach verhindert, ist sie „zu doof zum Verhüten“ und handelt fahrlässig
- wenn sie abtreibt, handelt sie verantwortungslos und selbstsüchtig
- wenn sie nicht abtreibt, obwohl sie weiß, dass das Kind behindert sein wird, ist sie verantwortungslos und naiv
- wenn sie ihr Kind zur Adoption freigibt, hat sie als Mutter versagt
- wenn sie ihr Kind nicht vor einem prügelnden Vater schützen kann, ist sie Schuld
- wenn ihr Kind in Armut aufwächst, ist sie Schuld
- wenn sie sich den Großteil ihrer Zeit um den Lebensunterhalt kümmern muss, ist sie eine schlechte Mutter und vernachlässigt ihr Kind
- …
(Gegenprobe: Diese Ansichten mal zum Spaß auf Männer bzw. Väter ummünzen.)
Die Parallele dazu, wie in unserer Gesellschaft das Thema Gewalt gegen Frauen verhandelt wird, ist nicht zufällig – Frauen stehen im Fokus, sie sind im Zweifelsfall Wesen mit fragwürdigen Motiven und verantwortungslosem Verhalten, die Belehrung brauchen. Männer haben mit nichts etwas zu tun, familiärer und gesellschaftlicher Kontext existieren nicht. (Mit zeitweiligen Ausnahmen, wenn es dem Rassismus dient.)
Frauen und auch schon Mädchen wissen, dass sie im Zweifelsfall mit einem Kind alleine gelassen werden, für sein körperliches und seelisches Wohlergehen verantwortlich sein werden, seine menschliche Entwicklung, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, und das Tag und Nacht für mindestens zwei Jahrzehnte. Sie wissen im Normalfall auch sehr gut, was sie selber leisten können, körperlich und emotional, wie weit sie sind, diese Verantwortung übernehmen zu können, ob sie annehmen können, dass da ein Mensch in ihnen wächst, sie wissen, wieviel Unterstützung sie von ihrem Umfeld erwarten können. Sie wissen auch genauso, dass Kinder wertvoll sind und Kinder zu bekommen Glück und Erfüllung bedeuten kann.
Wie bei vielen ethischen Fragen solcher Tragweite kann kein Mensch von außen eine Entscheidung für oder gegen die Fortführung einer Schwangerschaft treffen. Pauschal anzunehmen, dass Frauen das nicht verantwortungsvoll täten, dass ihnen sogar sachliche Information über Eingriffe und Folgen vorenthalten werden müssen (§219a), weil sie sie sonst zu leichtfertig damit umgingen, ist von einer absurden Frauenfeindlichkeit. Erst recht, wo man längst aus Ländern mit liberaler Handhabe weiß, dass dort keineswegs mehr Abtreibungen stattfinden.
Ich bin Christ, ich glaube an die Heiligkeit und Kostbarkeit des menschlichen Lebens, auch das eines noch nicht geborenen Fötus. (Die Lehre der katholischen Kirche, die aus Angst vor der Unschärfe des Lebensbeginns gewissermaßen rückwirkend jeden Zellhaufen oder sogar unbefruchtete Keimzellen für heilig hält, teile ich nicht.) Aber ich glaube als Christ auch an die Gewissensentscheidung. Ganz abgesehen davon, dass auch das geborene Leben heilig ist, das eines Kindes wie auch das der Mutter oder des Vaters. Ich finde ein Beratungsangebot vor einem Abbruch vor allem für junge Schwangere gut, aber als ganzheitliche Unterstützung in einer sicher für viele schwierigen Lebenslage. Sie muss alle Möglichkeiten aufzeigen, von medizinischen Methoden bis hin zur möglichen Unterstützung durch soziale Einrichtungen oder auch Adoption. Sie kann nur ergebnisoffen sein, ohne künstliche Verknappung von Information, ohne willkürliche Zwangsbedenkzeiten, und die Informationen müssen auch sonst frei zugänglich sein.
Es ist mir im Rückblick peinlich, aber was meine Haltung hin zur Entscheidungsfreiheit unterstützt hat, war ein einfaches Gedankenspiel zur körperlichen Autonomie: Stell dir vor, du würdest gesetzlich verpflichtet, bei Bedarf verzichtbare Organe zu spenden, z. B. eine Niere. Der Staat bestimmt, dass ein Teil deines Körpers nicht dir gehört, sondern im Zweifelsfall jemand anderem. Samt lebenslangen Konsequenzen und einem potentiell lebensgefährlichem Eingriff. Und sozialer Kontrolle, ob du auch ja schonend mit deinem Körper umgehst.
Der Vergleich hinkt natürlich an verschiedenen Stellen, aber dass nur jeder Mensch für sich selbst entscheiden können darf, was mit seinem Körper passiert, ob darin etwas – und sei es ein kleiner Mensch – wachsen darf oder nicht, das ist für mich so außer Frage – danach muss man nicht einmal mehr über erlaubte medizinische Ausnahmen und besondere Härtefälle nachdenken. Und dass manche ihre Entscheidung – ob in die eine oder andere Richtung – irgendwann auch einmal bereuen können, ist mit allen menschlichen Entscheidungen so und kein Argument gegen die Freiheit.
Nachtrag: Ich weiß nicht mehr, in welcher Online-Diskussion ich den Vergleich mit der Nierenspende aufgeschnappt hatte. Myriam hat mich jetzt auf den lesenswerten Aufsatz A Defense of Abortion aus dem Jahr 1971 hingewiesen, in dem die Philosophin Judith Jarvis Thomson die Frage nach der Rechtfertigung der Abtreibung anhand des Beispiels ausführlich diskutiert.
Danke Giardino!
Es hat in den letzten Wochen und Monaten trotz aller schlimmen Nachrichten weltweit wenig gegeben, das mich so empört und so wütend gemacht hat, wie das Urteil um den Paragraphen 219a gegen die Gynäkologin Kristina Hänel, die es gewagt hat Informationen zur Verfügung zu stellen und dafür jetzt verurteilt wurde. Es ist unerträglich, dass Frauen angemessene Informationen zur Abtreibung vorenthalten werden sollen und dass ihnen damit das Recht auf Abtreibung und über ihren eigenen Körper zu bestimmen vom Gesetzgeber wieder abgesprochen wird. Es gibt eine Petition „Informationsrecht für Frauen zum Schwangerschaftsabbruch“ an den deutschen Bundestag, die innerhalb kürzester Zeit bereits über 126 000 Unterschriften gesammelt hat. Es wäre schön, wenn sich dieser Petition möglichst viele Leser des Blogs anschließen würden. https://www.change.org/p/kristinah%C3%A4nel-informationsrecht-f%C3%BCr-frauen-zum-schwangerschaftsabbruch-219a-behindert-das?utm_medium=email&utm_source=petition_signer_receipt&utm_campaign=triggered&share_context=signature_receipt&recruiter=55359975&j=184438&sfmc_sub=163484976&l=32_HTML&u=34203745&mid=7233052&jb=324999
Vielen Dank auch von mir für die Offenheit.
Erst vor wenigen Monaten hatte ich mich mit Frau Croco verwundert darüber ausgetauscht, dass das Thema Abtreibung komplett aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist und auch unter Jugendlichen überhaupt kein Thema ist. Wir erinnerten uns daran, wie heftig und ständig in unserer Jugend (80er) darüber diskutiert worden war. Und wir erinnerten einander daran, dass Abtreibung in Deutschland nach §218 verboten ist, lediglich unter bestimmten Voraussetzung nicht strafverfolgt wird.
Ich hoffe, dass durch den aktuellen Fall eine neue Diskussion stattfindet.
Auch ich möchte mich bei Ihnen für diesn Blogbeitrag bedanken. Und dankbar bin ich auch dafür, dass ich in meinem Leben nie in die Situation gekommen bin, mich für oder gegen die Fortführung einer Schwangerschaft entscheiden zu müssen.
Als Ostfrau kommt noch dazu, dass ich weiß, dass wir in diesem Punkt schon mal weiter waren, wie hier gut beschrieben wird: https://irgendwiejuedisch.com/2017/11/wird-der-frau-das-recht-uebertragen-ueber-die-unterbrechung-einer-schwangerschaft-in-eigener-verantwortung-zu-entscheiden.html
windsbraut