Bevor das viele Lesefutter noch länger hier herumliegt und anfängt, merkwürdig zu riechen, kommt es auf den Tisch.
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Nicht völlig überraschend korreliert in den USA die Zahl der Selbstmordversuche von Schülern, die lesbisch, schwul oder bisexuell sind, mit für diese Gruppe relevanter Gesetzgebung des jeweiligen Staats, insbesondere zur gleichgeschlechtlichen Ehe: Suicidal Teens – Marriage Laws. Auch deshalb muss beim derzeitigen Backlash in den USA, wonach z. B. trans Menschen (darunter sind auch Kinder) kein ihnen entsprechender und für sie sicherer Toilettenbesuch mehr erlaubt wird, Schlimmes befürchtet werden.
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Ein Stück, das sich mit der Bedeutung von Lebensmittelpreisen für Geringverdiener auseinandersetzt und der – wenn nicht offen nach unten tretend, dann doch mindestens gedankenlosen – Forderung vermögender Bürger, Essen müsse viel mehr Geld kosten:
Natürlich greift in der „oberen Mittelschicht“, wie Marieluise Beck das Milieu klassifiziert hat, auch das Engelsche Gesetz. Der „Weil ich es mir wert bin“-Kollwitzplatz-Gänger kann sich die teureren Lebensmittel nicht nur leisten, er gibt gleichzeitig auch einen kleineren Einkommensanteil als der Prolet aus Hohenschönhausen fürs Essen aus. Dabei hält man sich – Sarah Wiener lässt schön grüßen – auch noch für ein Vorbild, „wenn nur alle sich so bewusst wie ich ernähren würden“ gäbe es keinen Klimawandel mehr, auch würde die Ausbeutung des Menschen verschwinden und niemand mehr schlägt den Robbenbabys den Schädel ein.
Etwas, das mich auch schon seit längerem beschäftigt: wie sehr die Bilder und Geschichten vom Gesundsein, richtiger Ernährung und Lebenswandel, die wir und die Medien uns erzählen, von sozialer Selbstvergewisserung und Abgrenzung nach unten geprägt sind. Egal, ob dahinter im Einzelfall offene Verachtung von finanziell schlechter Gestellten steht oder nur privilegienvergessene Ignoranz.
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Gerrymandering. Komisches Wort, benannt nach einem US-Politiker, der schon vor über 200 Jahren erkannte, wie man seinen Erfolg unter einem Mehrheitswahlrecht mit einem, sagen wir, etwas kreativeren Zuschnitt der Wahlkreise etwas auf die Sprünge helfen kann. Hier eine Grafik, die den Effekt schön illustriert:
https://twitter.com/SallyAlbright/status/835584087654006784
Unfassbar, nicht? Auf der englischsprachigen Wikipediaseite gibt es auch echte Beispiele mit Landkarten. Gerade in den vergangenen Jahren haben wohl vor allem republikanisch geführte Bundesstaaten keine Skrupel gezeigt, mit Hilfe von Statistik und Software immer groteskere Formen noch so eben zusammenhängender Wahlkreise zu ziehen, durch die sie die Stimmkraft traditionell Demokraten wählender Gemeinden abwerten konnten.
Jetzt gibt es eine Mathematikprofessorin, die dieser obszön undemokratischen Praxis mit Geometrie begegnen will, und die offenbar recht erfolgreich ihre Zunft mobilisiert, um Definitionen für gute, kompakte Wahlkreise zu finden. Das heißt wissenschaftlich basierte Definitionen, die aber letztlich so einfach sein müssen, dass auch Gerichte sie verstehen und anwenden können. Spannend. Oder anders gesagt: Du weißt, dass du es ganz schön verbockt hast, wenn sich Mathematiker*innen gegen deine Politik verbünden.
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Der Papapelz mit guten Punkten, was an unserem irgendwie als gottgegeben hingenommenem System von Arbeit und Rente nicht stimmt:
ich versage mir ein leben nach meinen vorstellungen, um das verfügbare gehalt zu maximieren und private vorsorge zu ermöglichen.
ich versage mir empathie und fürsorge – die bringen kein geld (und wenn sie es tun, muss fürsorge gewinnbringend wirtschaftlich funktionieren).
ich versage mir ein generationenübergreifendes miteinander: arbeiten wie der deibel, um die pflege angehöriger oder die fürsorge des nachwuchses (kita und co. lässt grüßen) finanziell zu ermöglichen, aber kaum noch zeit für die familie haben.
und – in meiner wahrnehmung am einschneidensten – ich unterdrücke die eigene motivation zugunsten der wirtschaftlichen integration in das system gewinnorientierter erwerbsarbeit, und verspreche mir davon, dafür in einem nebulösen ’später‘ entschädigt zu werden.
Wie könnte ein alternatives Modell von Arbeit, Care-Arbeit in der Familie und Altwerden aussehen, das ich selbst gerne leben würde? Ich glaube, das ist guter Stoff, um weiter darüber nachzudenken.
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Ein Algorithmus auf der Suche nach dem traurigsten Radiohead-Song: https://t.co/YqEl104xdh ("Exit Music" erst auf Platz 6, Skandal!) pic.twitter.com/qwztrh6gyG
— Simon Hurtz (@SimonHurtz) February 22, 2017
Ein Typ hat mit Hilfe von Musikdatenbanken, Audio- und Textanalysesoftware die Traurigkeit aller Songs von Radiohead bestimmt und visualisiert. Was für eine beknackte, schöne Idee. Wie man oben sieht (nicht auf den Pfeil klicken, das ist nur ein Screenshot), sticht das neue Album, das ich eines ihrer besten finde, als besonders schwermütig hervor. Tja. Aber Radiohead sind nicht nur was für altgewordene Emos wie mich, die können auch anders! Nehmen wir die Analyse zuhilfe und spielen wir im Gegenzug einfach den allerlustigsten, lebensbejahendsten Radiohead-Song!
https://www.youtube.com/watch?v=r7UKu8s84S0
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In my view, the main reason for the uneven management sex ratio is our inability to discern between confidence and competence. That is, because we (people in general) commonly misinterpret displays of confidence as a sign of competence, we are fooled into believing that men are better leaders than women.
Ob es der main reason ist, kann man sicher diskutieren, aber es ist sicher ein wichtiger: Warum oft ausgerechnet die mit den geringsten Führungsqualitäten ganz nach oben gefördert werden. Und damit zusammenhängend: warum es eher Männer sind.
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Es ging politisch zu, aber niemand hatte die Ambition, Leitartikel zu schreiben. Es ging privat zu, aber alle wussten sehr genau um die Grenze, die das, was nur den Therapeuten angeht, von dem trennt, was an den Regungen im eigenen Bezirk, an den eigenen Verletzungen und Verletzlichkeiten für die Mitlesenden in ihren eigenen Bezirken bewegend und erhellend
sein kann – was nicht heißt, dass man diese Grenze nicht hin und wieder verletzte.
Es ging albern zu, aber das Feine und das Grobe ließen sich meistens gut trennen.
Ein Instagram aus Sprache: In einem Artikel im Merkur [PDF] lässt Ekkehard Knörer die Anfänge der Weblogszene in Deutschland Revue passieren, insbesondere auf Antville. Eine Breitseite Nostalgie für jemanden wie mich, der seit Ende 2004 Zaungast bei vielen der im Artikel genannten Blogs war. Schwer in Worte zu fassen, wie anders die Social-Media-Welt heute im Vergleich zu früher ist. Wie sich dieses ganz eigene Dorf im Netz damals angefühlt hat. Wie vielfältig, experimentell, verzankt und doch verschworen die Antville-Gemeinde immer wirkte. Und neben dem Verfolgen der vielen tollen, inzwischen meist eingeschlafenen oder weitergezogenen Blogs und der Leute dahinter, hat es mir auch lange Jahre Spaß gemacht, mich an offenen Gemeinschaft-Foto-Blogs wie z.B. meine kleine stadt, mach doch mal was mit tieren oder Schilderbilder zu beteiligen, etwas, dessen minimalistischer Reiz es heute zugegebenermaßen schwer hat gegen gestylte Apps und weltweite Plattformen wie Twitter und Instagram, oder – falls man überhaupt noch eins hat – im Zweifelsfall auch das eigene Blog.
Diese Merkur-Rückschau auf die Blogger-Urzeit hat mich auch in die Zeit zurückkatapultiert, als ich anfing, diese fremde und neue Welt für mich zu entdecken (die Älteren werden sich noch an die Parole „mehr Kryptik!“ erinnern). Ich will nicht sagen, dass früher alles besser war, aber diesem Anfang wohnte ein Zauber inne, der sich auf Twitter, Facebook und Instagram so nicht reproduzieren ließ – zumindest nicht für mich.
Diese Radioheadvisualisierung ist sehr cool, aber ich muss mich Simon anschließen: „Exit Music (for a film)“ auf Platz 6? WTF?