Wie ich darauf kam
Vor ein paar Jahren wurde ich auf die Crowdfunding-Aktion einer chinesischen Firma aufmerksam, die sich die Entwicklung eines Sets von speziellen Breitbild-Objektiven für Video finanzieren ließ. Mit Preisen von oft mehreren zehntausend Euro/Dollar waren anamorphotische Objektive bis dahin weitgehend unerschwinglich für alle, die nicht über das Budget großer Studios verfügten. Die Neuentwicklung versprach nun, diese Objektive auch für Normalsterbliche erschwinglich zu machen.
Nun bin ich Amateurknipser und kein Videomacher, aber ich fand die Technik spannend und bald sah ich, dass es Leute gab, die diese für Kino entwickelten Objektive auch zur reinen Fotografie einsetzten, mit faszinierenden Ergebnissen. Zum einen sind breite Bildformate ohnehin eine interessante Weise der Abbildung, und zum anderen hatten diese Fotos einen ganz eigenen Look, den man mit einfachem Beschneiden oder dem Stitching von Einzelbildern zu einem Panorama nicht erreicht.
Was ist das anamorphotische Verfahren?
Anamorphotische Objektive haben das Breitwandkino und Formate wie Cinemascope ermöglicht. Klassischer Film ist mit einem Seitenverhältnis von 1,37:1 recht „quadratisch“. Die Objektive stauchen nun das Bild horizontal, so dass man z. B. ein Bild im Format 2,4:1 auf dem Filmnegativ bzw. Sensor abbilden kann, ohne Fläche oder Pixel zu verschenken. Wenn früher ein solcher Film aufgeführt wurde, musste eine entsprechende Linse im Projektor den Vorgang wieder umkehren. Heute nutzt man natürlich Software, um digital zu „entstauchen“.
Die spezielle Optik der Objektive bringt außerdem eigene Charakteristiken mit sich wie z. B. horizontale Streifen durch helle Lichter im Bild, oder dass Lichtpunkte in der Unschärfe nicht rund sondern oval werden. Vermutlich weitgehend unbewusst assoziiert man das Format und diesen Look inzwischen mit Kino, selbst bei Einzelbildern, was einen guten Teil des Reizes ausmacht.
Mein Objektiv
Ich schlich in Folge mehrere Jahre um das Thema herum, schaute immer mal wieder Youtube-Videos, verfolgte Flickr-Gruppen und las Blogartikel, bis ich mir irgendwann sicher war, nicht nur wieder an kurzfristigem Gear-Acquisition-Syndrom zu leiden, sondern mich für diese Art der Fotografie wirklich zu interessieren. Der Preis von über 1000€ für so ein spezielles Nischendings hielt mich allerdings immer noch ab. Erst als vor einigen Monaten eine super leichte, neuere Objektivgeneration für Vollformat inkl. Canon-Anschluss auf die Hälfte des Ursprungspreises reduziert wurde, schlug ich zu.

Sirui Saturn 35mm T2.9 1,6fach (Hersteller)
Ich habe mich dabei für die Brennweite 35mm entschieden (es gibt in der Serie auch noch 50mm und 75mm), denn mich hat von Anfang an nur ein echtes Weitwinkel interessiert, um mit dem horizontalen Blickwinkel (hier entsprechend einem 22mm-Objektiv) richtige Panoramen oder Motive mit viel Kontext drumherum fotografieren zu können. Außerdem habe ich die Variante „Natural Flare“ gewählt, d.h. horizontale Streifen bei hellen Lichtpunkten sollen in der Farbe der Lichtquelle erscheinen und nicht in leuchtendem Blau, wie man es aus Science-Fiction-Filmen kennt. Allerdings ist dieses „Flaring“ bei dem Objektiv sehr gedämpft, man muss schon direkt in die Sonne fotografieren, um es hervorzurufen. Die frühen Serien von Sirui waren diesbezüglich extrem, vermutlich hat das viele Kunden abgeschreckt. Ich selbst lege jetzt auch keinen besonderen Wert darauf, dass die Fotos wie Blade Runner oder Star Trek aussehen. Das Objektiv ist außerdem sehr klein und leicht (~400g), weil es für die Nutzung auf Kameradrohnen optimiert wurde. Normalerweise sind anamorphotische Objektive kiloschwer.
Arbeitsweise
Fotografieren und Nachbearbeitung sind etwas aufwändiger. Zunächst einmal funktioniert das Objektiv komplett mechanisch, d.h. Blende und Fokus müssen klassisch von Hand eingestellt werden, und es gibt auch keine elektronische Verbindung mit der Kamera, um den Fokusassistenten zu verwenden oder Aufnahmedaten auszutauschen. Ich nutze daher mit Blick durch den Sucher die Lupenfunktion an meiner spiegellosen Canon R5, um das Motiv auch im Detail mittels des Fokusrings am Objektiv scharfzustellen. Mit der manuellen Blende bestimme ich die Schärfentiefe, von Blende T2.9 (alles vor oder hinter dem scharf gestellten Motiv wird so unscharf wie möglich) bis T16 (fast alle Ebenen des Bilds werden scharf). Die Belichtungszeit wähle ich ganz normal in der Kamera, die dann die passende ISO automatisch bestimmt. Dadurch, dass die spiegellose Kamera die tatsächliche Belichtung simulieren kann, sehe ich schon vorab im Sucher / auf dem Screen, ob sie passt. Die einzige Schwierigkeit ist, das Foto anhand einer gestauchten Darstellung zu komponieren. Manche videoorientierten Kameras können das Bild schon im Sucherbild strecken, meine kann es nicht. Man gewöhnt sich aber daran.
Die Aufnahme ist ein gestauchtes Foto, das in der Nachbearbeitung wieder zurück auf seine ursprüngliche Breite gebracht werden muss, d. h. gemäß Objektivspezifikation das 1,6fache des Sensorbilds. (Dass das Foto hier vertikal gestaucht anstatt horizontal gestreckt aussieht, ist der Blogdarstellung geschuldet – tatsächlich wäre das untere so hoch wie das obere, aber 1,6 mal so breit.) Für Videos gibt es dafür in allen wichtigen Schnittprogrammen einfache Funktionen, in der RAW-Fotobearbeitung ist die Möglichkeit noch nicht so verbreitet.

Das Bild direkt aus der Kamera.

Das Bild nach dem Entzerren.
In den ersten Wochen habe ich die RAW-Bilder in Capture One geladen, Belichtung am gestauchten Bild nachbearbeitet, dann als JPG exportiert, mit dem Kommandozeilen-Tool ImageMagick stapelweise entstaucht und die JPGs dann oft noch einmal mit GIMP nachbearbeitet. Umständlicher geht es kaum. Glücklicherweise hat Capture One, mit dem ich alle meine Fotos bearbeite, kürzlich die Möglichkeit eingeführt, auch RAW-Bilder bis zum Faktor 2x zu strecken. Zusammen mit anderen nützlichen neuen Features wie der KI-basierten Maskierung von Vorder- und Hintergrund war das ein Grund, nach Jahren mal wieder auf eine neue Version zu springen. Jetzt brauche ich keine 30 Sekunden, um einen ganzen Stapel von Fotos auf einmal zu entstauchen, ohne das Tool verlassen zu müssen oder einen Haufen Zwischendateien zu erzeugen. Was bleibt ist eine starke Verzerrung des Bilds mit einer Mischung aus Tonnenverzerrung in der Mitte und Kissenverzerrung an den äußeren Rändern, die vor allem bei geraden Linien im Bild auffallen und selbst in der Software nur schwer korrigiert werden können, aber das gehört letztlich auch zum Look.
Ein paar Bilder
Zunächst habe ich das Objektiv hauptsächlich auf ein paar Spaziergängen in den Feldern in der Nähe ausprobiert.









Erstmals gezielt angewendet wurde das Objektiv dann im Schottlandurlaub. Vor allem die kleinen ehemaligen Fischerdörfer an der Nordküste Aberdeenshires kommen damit ganz wunderbar zur Geltung, finde ich.
























Vignettierungsproblem (gelöst)
Von meinen ersten Ausflügen kam ich wie oben schon teilweise zu sehen mit einigen Fotos zurück, die extrem und ungewöhnlich vignettiert waren, mit nahezu schwarzen Balken am oberen Rand.

Ich dachte zunächst an einen Objektivfehler, aber dann fiel mir auf, dass der Effekt nur bei Fotos mit sehr kurzen Belichtungszeiten auftrat. Da das Objektiv mit Offenblende T2.9 (entspricht ungefähr F2.8) recht lichtstark ist, hatte ich teilweise mit 1/4000stel oder sogar 1/8000stel Sekunde belichtet, um die Offenblende noch nutzen zu können. Das sah irgendwie nach einem Problem mit dem Verschluss aus, und nach etwas Recherche fand ich heraus, dass im Auslösemodus „elektronisch 1. Vorhang“ (den ich fast immer verwende) die Kamera normalerweise die momentane Brennweite berücksichtigt, um Abschattungen gezielt zu vermeiden. Durch die nicht existierende Kommunikation mit dem Objektiv fällt diese Anpassung flach, daher kann bei super kurzen Belichtungszeiten tatsächlich eine waagerechte Abschattung durch den Sensorvorhang auftreten. Stellt man den Auslösemodus auf rein mechanisch oder rein elektronisch, tritt das Problem nicht mehr auf. (Was nicht heißt, dass ich im Weiteren immer daran gedacht hätte, siehe die Nahaufnahmen unten…)
Verwendung von Nahlinsen
Anamorphotische Objektive sind bauartbedingt nicht besonders gut, was die Naheinstellgrenze angeht. Bei meinem ist der Mindestabstand 90 cm, d.h. man kommt nicht gerade nah an sein Subjekt heran, um es groß abzubilden bzw. den Hintergrund besonders unscharf werden zu lassen. Dem kann man mit speziellen Nahlinsen abhelfen, die vorne wie ein Filter aufs Objektiv geschraubt werden. Es gibt sie typischerweise in Sets zum Beispiel mit 1,2,4 und 8 Dioptrien – ich habe ein solches Set für unter 20 Euro bekommen. Die Nahlinse reduziert den Fokusbereich entsprechend ihrer Dioptrienzahl auf 1m / X. Das heißt, wenn ich es richtig verstanden habe, rutscht der Unendlichkeitsfokus bei einer Linse mit 1 Dioptrien auf die Entfernung 1 m (man kann nicht mehr auf weiter Entferntes scharf stellen) und der Mindestabstand reduziert sich auf ca. 40 cm (noch nicht nachgemessen).
Vorgestern habe ich die 1-Dioptrien-Linse bei einem Morgenspaziergang ausprobiert, insbesondere mit Offenblende, um möglichst viel Unschärfe rund ums Motiv zu erzeugen, und bin von der Bildwirkung begeistert.




Fazit
Natürlich bleibt die Vogelfotografie mein erstes Steckenpferd, aber darüber hinaus hat mir in den letzten Jahren wenig so viel kreativen Spaß beschert wie das Ausprobieren dieser neuen Panorama-Methode, die Fotos ganz eigener Qualität hervorbringt, und das ohne ungenutzte Pixel, teure Spezialkamera oder die knifflige Aufnahme von Einzelbildern. Das ist ab jetzt ein ständiger Bestandteil meines Arsenals, und ich freue mich schon auf den Herbst und städtische Lichter auf nassen Straßen in der Dämmerung – ich glaube, das wird damit richtig gut aussehen.