Gedanken über hierarchische Weltbilder

Als Mensch, der davon überzeugt ist, dass das Leben jedes Menschen samt aller Freude, Schmerzen, Gesundheit, Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben sollte wie das aller anderen, kann man an der Wirklichkeit verzweifeln. Gleichermaßen, wenn man praktisch und wissenschaftlich denkt: Es gibt ein gesellschaftliches Problem, es gibt dazu Studien mit recht klaren Hinweisen, wie man es deutlich mildern kann, aber gesellschaftlicher Diskurs und politische Programme bleiben trotzdem seit Jahrzehnten an den gleichen, erwiesenermaßen nicht-effektiven oder sogar kontraproduktiven Maßnahmen haften.

Wie kommt sowas? Wie kann man gegen erfundene Sprachpolizeien wettern und im gleichen Atemzug inklusive Sprache gesetzlich verbieten? Wie kann man sich als Familienpartei verstehen und gleichzeitig erbittert gegen die Zusammenführung von geflüchteten Eltern und Kindern kämpfen? Wie kann man sich Christ*in nennen und Hass auf Minderheiten schüren? Wie kann man mangelnde Integration in die Mehrheitsgesellschaft beklagen, aber Betroffenen genau diese Integration mit immer neuen Gängelungen und Einschränkungen verunmöglichen? Und so weiter. Sehen die alle nicht die Widersprüche?

Andere haben das früher begriffen als ich (und können klüger darüber sprechen), aber mir war lange einfach entgangen, was der Knackpunkt ist: die Prämisse, dass Menschen von Grund auf gleich sind (und sein sollten). Wenn man stattdessen davon ausgeht, dass es so etwas wie eine natürliche Hierarchie zwischen Menschen gibt (und geben muss), ergibt es plötzlich Sinn.

Im Wesentlichen spiegelt das hierarchische Weltbild die heutigen Machtverhältnisse in den meisten Gesellschaften wieder, insbesondere (ohne spezielle Reihenfolge):

  • Menschen stehen über Tieren und Natur,
  • Männer über Frauen,
  • Besitzende über wirtschaftlich Benachteiligte,
  • Nichtbehinderte über Behinderte,
  • Gesunde über Kranke,
  • Weiße über Nicht-Weiße,
  • Cissexuelle über trans-, intersexuelle und nicht-binäre Menschen
  • Erwachsene über Kinder,
  • Heterosexuelle über anders Begehrende,

… und noch weitere Hierarchien (darunter teilweise merkwürdig abgeleitete wie: Motorisierte über Radfahrer- und Fußgänger*innen)

Was an politischen und gesellschaftlichen Ideen kursiert, wird immer daran gemessen, ob sie diese Hierarchie entweder fördern oder aber destabilisieren (dazu reicht offenbar schon, nur ihre Grenzen verschwimmen zu lassen). In diesem Weltbild ist ein „Wir“ immer exklusiv. Und da es keine Gleichwertigkeit zwischen den Menschen gibt, ist ungleiche Behandlung auch gerecht und Gleichbehandlung ungerecht*. Gleichbehandlung mit Menschen unterhalb der eigenen Hierarchiestufe fühlt sich wie Diskriminierung an. Jeder hat seinen Platz in der Hierarchie „verdient“, im guten wie im schlechten Sinn, auch wenn dieser Platz ja praktisch durch eigenes Zutun nicht verändert werden kann.

Folgende Fragen sind für das Weltbild essentiell und stehen immer im Raum:

  • Identität: Welche Menschengruppen gelten als (in sich gute) menschliche Norm, welche als (in sich ungute, unzulängliche) Abweichung?
  • Fokus: Wessen Bedürfnisse stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit? Wessen Stimme hat Gewicht, wessen Stimme wird nicht einmal gehört? Aus wessen Sicht wird die Welt erklärt, mit wem wird sich dagegen praktisch nie identifiziert?
  • Dominanz: Wer soll über wen bestimmen dürfen? Wer darf nicht einmal über sich selbst bestimmen? Wer darf wen zum eigenen Vorteil ausnutzen? Wessen Fehlverhalten bis hin zu Gewalt wird geduldet, wessen wird bis hin zu Lappalien streng bestraft?

Nur ein paar Beispiele off the top of my head – ich selbst habe noch viele weitere im Kopf und denke, jeder kann hier ohne Mühe anlegen:

  • Die Einführung der Geldkarte für Geflüchtete, demnächst womöglich auch für Bürgerhartz-Empfänger. Es spielt keine Rolle, dass Pull-Effekte wissenschaftlich widerlegt sind, die Maßnahme ohne Not Hürden für ein reibungsloses, menschenwürdiges Leben aufbaut, Millionen kostet, kein einziges Problem löst und die Kommunen und andere Behörden überlastet, ja dass selbst die verteufelten Geldtransfers an Angehörige im Ausland sogar tendenziell positiv gegen Fluchtursachen wirken: Hier muss dominiert und gegängelt werden, denn die Zielgruppe soll nie höher auf der Leiter stehen dürfen, als es ihnen empfundenermaßen zugestanden wird.
  • Ein türkisches Arbeiterkind, das selbstverständlich für einen Übergang zur Hauptschule vorgesehen wird, während das deutsche Ingenieurskind bei gleichen, unter vermutlich leichteren Bedingungen erzielten Noten für das Gymnasium empfohlen wird.
  • Der Hass auf Greta Thunberg. Eine weibliche (1) Jugendliche (2) mit Autismus (3) weist öffentlich Alte Weiße Männer zurecht, sie sollen nicht länger hemmungslos den Menschen über die Natur stellen (4). Neben der grundsätzlichen Wut, wenn ein Verhalten, mit dem man sich identifiziert, an den Pranger gestellt wird, waren das für manche offenbar so viele Hierarchieverletzungen, dass sie sich gezwungen sahen, mit „Fuck-Greta“-Aufklebern auf ihren PS-starken Autos die innere Ordnung wiederzuherstellen.
  • Polizei: Unverhältnismäßiges Vorgehen gegen People of Color, Obdachlose und andere Marginalisierte, unzureichende Verfolgung von sexueller Gewalt: Im Idealfall deckt sich die „öffentliche Ordnung“ mit den Gesetzen, deren Einhaltung die Polizei forcieren soll, aber leider ist sie – nicht zuletzt geschichtlich gewachsen – immer noch zuallererst der buchstäbliche „Ordnungshüter“, der im Zweifelsfall mit der vom Staat zugestandenen Gewalt (bzw. deren selektiver Nichtanwendung) dafür sorgt, dass die oben aufgelistete gesellschaftliche Machtverteilung erhalten bleibt.
  • Jens Spahns „Die Pille danach ist kein Smartie“ – stellvertretend für die systematische Missachtung von Frauen, hier speziell in Gesundheitsfragen. Frauen kann man im hierarchischen Weltbild nicht zutrauen, eigenverantwortlich über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden (oder ihren Körper auch nur zuverlässig selbst wahrzunehmen). Letztlich bilden auch die Strafgesetzbuch-Paragraphen 218 und 219 diesen Geist ab.
  • Wenn eine muslimische Frau als Reinigungskraft ein Kopftuch trägt, wird das kaum jemand problematisieren. Wenn sie es als Lehrerin oder Anwältin tragen will, wird es zu einem überregionalen Politikum mit potentiell gewalttätigen Hasskampagnen.

Unsere Gesellschaft ist so tiefgreifend hierarchisch geprägt, dass niemand, mich eingeschlossen, nicht schon auf unwillkürlicher, emotionaler Ebene auf Hierarchiebrüche oder auch nur die Anwesenheit von Menschen „unterhalb“ der eigenen wahrgenommenen Hierarchiestufe reagiert. Die Frage ist, ob man dem Unwohlsein und eigenen Vorurteilen auf den Grund gehen und etwas entgegensetzen möchte, oder ob man Ängsten, Hass und dem Streben nach Dominanz freien Lauf lässt. (Wohin das im Fall kollektiver Aufstachelung im Extrem führen kann, muss man nicht weiter erläutern.)

Wie gesagt, für die meisten mögen diese Gedanken nicht neu oder bemerkenswert sein; ich habe darin zumindest einen stabilen Ansatz für viele gesellschaftliche Vorgänge gefunden, die ich mir zuvor nicht wirklich erklären konnte.** Das macht die zeitweilige Verzweiflung nicht besser. Aber zumindest sehe ich jetzt schon eher, warum manche Strategien dagegen völlig ins Leere laufen.

*: Natürlich bedingt die Vielfalt der Menschen unterschiedliche Behandlung, wenn sie gerecht sein soll (eine Frau mit Lähmung braucht womöglich Assistenz, ein Millionärssohn kein Bafög, usw.) – ich meine mit Gleichbehandlung hier Maßnahmen, die versuchen, eine Gleichheit der Lebensbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten herzustellen, und mit Ungleichbehandlung solche, die gesellschaftliche Ungleichheit und Machtgefälle zementieren oder vergrößern.

**: Das Thema ist uferlos und hat natürlich zahllose Bezüge und Ausformungen in allen Lebensbereichen wie Wirtschaftssystem, Religion, Familiensysteme usw. Ich bin froh, dass dieser Eintrag nicht noch länger geworden ist als ohnehin schon.

Ein Gedanke zu „Gedanken über hierarchische Weltbilder

  1. Elbwiese

    Prima Text! Man muß das selbst durchdenken, durchfühlen, begreifen, innerlich abgleichen – immer wieder, allein, in Gesprächen, schreibend, um es irgendwie erfassen zu können.
    Ich möchte zu dem Satz vor dem fettgedruckten mitdenken: Ich glaube, es geht nicht mal um diese Hierarchie, es gibt kein (Gruppen)Bewußtsein dafür, sondern wirklich immer nur für die individuelle Position und deren Wahrung. Also nicht „Wir weißen, privilegierten Männer…“, sondern „ich, Frank, 54, weiß, Einfamilienhaus, hetero… will meinen Diesel fahren und mein Sohn soll Frau und Kinder haben“. Meine These ist, dass sich die priveligierten Menschen nicht mehr oder kaum noch als Teil von Gesellschaft, von Gruppen usw. fühlen. Je mehr Privilegien, um so weniger sind sie Teil, nehmen teil, beteiligen sich usw.
    Aber das nur am Rande.
    Interessante Weise mache ich ausgerechnet in *Beteiligungs*prozessen (zur Gestaltung öffentlicher Orte) die Erfahrung von Gelingen, wachsendem Miteinander, Respekt, gelebter Divesität. Wir beteiligen gleich viele Frauen wie Männer, gleich viele Leute aus allen Altersgruppen, deutsch/migrantisch usw., arbeiten aufsuchend, um wirklich alle zu erreichen. Plötzlich haben Kinder und Hochbetagte Gewicht. Plötzlich sehen Leute mit Kinderwagen, Rollator, Rollstuhl, dass sie gleiche Interessen haben – Hautfarbe, Alte, Geschlecht, Herkunft: egal! Plötzlich gibt es keine und zwar GAR keine Mehrheit für Parkplätze und vieles mehr.
    Und am Ende entstehen Orte, in denen sich alle wiederfinden. auch Frank, 54, kann dort Sport machen. Obdachlose können sein. Und Mädchen spielen Fußball.
    Es ist natürlich alles noch viel komplexer, dies nur ein winziger Einblick und vielleicht Hoffnungsschimmer.

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