Die Gesellschaft entsolidarisiert sich immer mehr, die Empathie nimmt ab und die Menschen verrohen. Früher gab es nicht so viel Gewalt und Gleichgültigkeit. In so vielen Diskussionen, ob in den Medien oder mit Verwandten, Kollegen oder Nachbarn kommt diese Wahrnehmung offen oder implizit zum Ausdruck.
Und ich frage mich immer: Welches Früher meinen die? Wann war diese goldene Zeit, in der man sich umeinander gekümmert und Rücksicht genommen hat? In welches Früher wünschen sich die Leute zurück?
Das Früher, als man gemeinhin fand, Vergewaltigung in der Ehe könne es per Definition nicht geben?
Das Früher, als so manche meinten, Kinder wollten den Sex mit Erwachsenen doch auch?
Das Früher, als man Kinder selbstverständlich verprügeln durfte?
Das Früher, als es als Straftat galt, gleichgeschlechtlich zu lieben, und viele damit erpresst wurden?
Das Früher, als schwierige oder von Eltern verlassene Jugendliche weggesperrt, misshandelt, ihre Persönlichkeit gebrochen & ihre Arbeitskraft ausgebeutet wurde?
Das Früher, als deutschen Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter komplett am Arsch vorbei gingen?
Das Früher, als höchste Richter der Bundesrepublik ganzen Volksgruppen einen Hang zur Kriminalität zuschrieben?
Das Früher, als Behinderte zu Tausenden weggeschlossen, zwangssterilisiert oder ermordet wurden?
Das Früher, als man seinen Nachbarn denunzierte, ihn in den Tod schickte und sich sein Hab und Gut unter den Nagel riss?
Ja, es gibt noch so viel zu tun, es gibt Unrecht und Gleichgültigkeit und reaktionären Backlash und rohe Gewalt. Aber es wird besser. Langsam vielleicht und mit Rückschlägen, aber besser.
Sie haben so recht.
Das „Früher“ hat damit zu tun, dass sich keiner mehr so genau daran erinnert, wie es wirklich war.
Welch rauer Ton an Schulen herrschte.
Wie es war, in RAF – Zeiten in eine Polizeikontrolle zu geraten.
Angst junge Menschen beherrschte.
Über Missbrauch nicht geredet wurde.
Nein, ich will keines dieser “ Früher“ je wieder haben.
Ich bin mir, insbesondere als Frau, ziemlich sicher, dass ich dieses „Früher“ nicht vermisse.
Ansonsten erlebe ich, glücklichweise, in meinem Umfeld und Freundeskreis immer wieder viel Empahtie, Zusammenhalt und ein Sich-Kümmern. Es scheint etwas mit dem Aspekt „In den Wald hineinrufen“ zu tun zu haben, wäre meine steile These.
Sie haben vollkommen Recht. Aber wenn die Mär vom besseren früher hilft, die jetzigen Mißstände zu bessern, soll mit das egal sein ;-)