Turin

Eine knappe Woche in Turin verbracht, einen besten Freund besucht und in der kleinen Wohnung eines weiteren Freunds gewohnt der seit zweieinhalb Jahren auf Weltreise ist.

Turin ist meine italienische Lieblingsstadt. Nicht süß oder lieblich, kein Dolcevita, kein Meer in der Nähe,, nur die Westalpen sind rundherum zu sehen, wenn die Po-Ebene mal nicht vom Nebel heimgesucht wird. Die Stadt ist sachlicher, kühler, von einer eher zurückhaltenden Eleganz als viele andere in Italien. Würde man deutsche Städte darauf münzen, Turin wäre vielleicht ein bisschen wie Hamburg.

Die großen Zeiten der Autoindustrie, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, sind vorüber, mehrere hunderttausend Menschen weniger wohnen jetzt hier als in den 60er-/70ern, als viele „Gastarbeiter“ aus dem Süden Italiens hierher zogen um bei Fiat und Lancia zu arbeiten und ganze Stadtviertel wie Mirafiori bevölkerten. Doch irgendwie hat man es geschafft, sich mit Kreativität (und jeder Menge Investitionen) zu wandeln. Heute vibriert die Stadt vor kulturellen Aktivitäten und auch wirtschaftlich hält sie sich trotz genereller Krise in Italien tapfer. Was zum Beispiel hervorsticht sind die vielen EInzelhandelsgeschäfte und kleinen Dienstleister im Zentrum, die sich offenbar immer noch halten. Auch wenn in Turin die Einkaufszentren mit ihren globalisierten Markenshops genauso gewachsen sind, wie zum Beispiel im Lingotto, dem legendären ehemaligen Fiat-Gebäudekomplex mit seiner Teststrecke auf dem Dach – im Zentrum ist außer ein paar Standard-Luxusmarken in der von faschistischem Marmorprotz geprägten Via Roma nur wenig Einheitsbrei zu finden.

DIe vielen Palazzi aus dem 17.-19. Jahrhundert wurden zu großen Teilen renoviert, der Zentrumskern rund um Piazza Castello und Via Roma erfolgreich vom Autoverkehr befreit, und das ehemals heruntergekommene Altstadtviertel Quadrilatero Romano ist heute voller Restaurants und Bars. Die Zahl der Museen (und ihrer Öffnungstage) wächst, und in der Stadt nimmt man immer noch mit einem Rest Erstaunen zur Kenntnis, dass tatsächlich immer mehr Touristen kommen, um sie zu sehen. Die olympischen WInterspiele 2006 haben zwar ein großes Loch in die Stadtkasse gerissen, aber sie scheinen wohl den Wandel im Selbstverständnis und die generelle Zuversicht beflügelt zu haben.

EIne Woche mit 20-25 Grad nachmittags, einem wunderbaren Herbstlicht, das die endlosen Arkadengänge in der Innenstadt erleuchtet, einer Sicht von der Superga (einer barocken Basilika auf den Hügeln oberhalb Turins) bis zum Alpenrand ringsum, und jeden Abend leckeres Essen mit meinem Freund und anderen Freunden, die ich zum Teil aus meiner Zeit als sommerliches Mitglied des Chors noch kenne und mag. (Ich habe Ende der 80er-, Anfang der 90er mehrere Tourneen mit ihnen gesungen. Daher überhaupt meine Verbindung zu Turin.) Nur wenige offizielle Touristenattraktionen besucht wie z. B. das Kinomuseum in der Mole Antonelliana, dem seltsam geformten Turm und Wahrzeichen der Stadt, oder per glücklichem Zufall eine abendliche Führung im sehenswerten Automobilmuseum mitgemacht, ansonsten viel mehr herumgelaufen undtreiben gelassen. Die vielen hervorragenden Lebensmittel genossen, z. B. die Tagliatelle aus dem winzigen Pastificio um die Ecke, nur mit Butter und Parmesan, oder frische brioche alla crema zum Frühstück. Zwischendurch ein Tagesausflug nach Saluzzo und zur Sacra di San Michele, einem atemberaubend hoch über der Ebene gelegenen Kloster, wohin sich außer uns nur wenige Touristen verirrt haben.

Unter einem schlechten Stern stand nur die Absicht, ein wenig durch die Stoffgeschäfte zu stöbern. Entweder sie hatten Mittagspause (von 12 bis 15 Uhr), oder hatten nur Einrichtungsstoffe, oder waren ganz auf Service ausgerichtet (man muss genau wissen, was man will, und wird dann entsprechend beraten – kein Stöbern in den Stoffregalen, um sich inspirieren zu lassen), oder waren einfach nur sauteuer. Wobei unter den letzteren ein sehr bemerkenswertes Geschäft war, dessen Interieur wie auch die meisten Bedienungen im Gothic-Stil eingerichtet bzw. gekleidet und geschminkt war. Sie hatten aber auch ganz normale Stoffe für Anzüge, Hemden usw. Sehr speziell.

Zum Schluss verbrachten wir einen Tag in Mailand. Airfrance hatte den Rückflug von Turin über Paris um fünf Stunden vorgezogen (was 8h Aufenthalt in Roissy bedeutet hätte, brrr). Nachdem ich auf Twitter darüber gemotzt hatte, meldete sich unerwartet die Airline und bot mir nach einigen Direktnachrichten auch an, ich könne über Mailand Linate zurückfliegen. Da ich noch nie wirklich in Mailand war, sagte ich zu. Aber naja. Der Dom sieht mit seinem weiß leuchtendem Stein wirklich toll aus. Das VIertel Navigli scheint eine gute Adresse zu sein, um abends auszugehen (wir waren zu früh). Das 24h-Ticket für den ÖPNV ist mit 4,50 € unfassbar billig für ein hervorragendes Angebot. Und das Hotel ein wenig außerhalb war einwandfrei. Aber davon abgesehen waren wir eher enttäuscht. Wenn man nicht gerade zu denen gehört, die Städtereisen machen um zu shoppen, ist das Zentrum eher öde. Am Freitagnachmittag, als wir ankamen, war es sogar buchstäblich zum Davonlaufen, so voller einkaufender Menschenmassen war es. Und am Samstagmorgen steuerten wir in einem etwas weiter weg gelegenen Viertel gezielt einen offenbar sehr preiswerten Stoffhändler mit riesigem Angebot an, nur um festzustellen, dass er samstags geschlossen hat.

Aber egal. Die Woche war schön und ein letzter Spätsommerstreif. Jetzt kann die kalte Jahreszeit kommen.